Die Tagebücher (German Edition)
editorischer Vorgang, der viele Möglichkeiten zur Selbstzensur bietet. Tagebuchschreiber, könnte man sagen, schielen immer mit einem Auge auf eine Leserschaft,selbst wenn diese erst nach ihrem Tod zustande kommt oder auch nur aus ihnen selbst besteht. In keiner Weise sind (aktuell verfasste) Tagebücher in irgendeiner Weise »natürlicher« als autobiografische Erinnerungen, die Jahre nach den beschriebenen Ereignissen verfasst werden, wenn sie auch offensichtlich andere Arten von Informationen bieten und ihren eigenen Genrekonventionen unterliegen.
Wie weit Burtons Tagebücher seinen Frauen zugänglich waren und ihre Existenz dem näheren Umkreis von Familie, Freunden und Anhang bekannt war, wurde bereits erörtert. Dass Burton wusste, dass Elizabeth, Susan oder Sally seine Einträge lesen könnten, mag ihn zu einem gewissen Maß an Selbstzensur veranlasst haben. Das sollte nicht überraschen: Alle Tagebuchautoren, selbst jene, die ihre Aufzeichnungen verschlüsseln und in Kellergewölben verschließen, müssen sich und ihr Zeugnis in einem gewissen Maß edieren.
Die Tatsache, dass Burton etwas nicht im Tagebuch festhielt, bedeutet nicht, dass es nicht geschehen war. Es gab selbst während der Tagebuchjahre Tage, Wochen, manchmal Monate, in denen er nichts notierte. Von Juli 1965 bis März 1966, von November 1967 bis Juli 1968 und von September 1970 bis Juni 1971 scheint er keine Aufzeichnungen gemacht zu haben. Natürlich entschied er selbst, wie viel er schreiben wollte, was enorm variieren konnte. Der Längenunterschied der Tagebucheinträge bedeutet, dass die Art der Notizen sehr unterschiedlich ist. Obwohl er 1975 ein Tagebuch über einen Zeitraum von acht Monaten führte, beläuft es sich auf lediglich 8000 Worte. Die meisten Einträge sind recht kurz.
Darüber hinaus erinnerte sich Burton zuweilen nicht mehr an das Geschehene, obwohl er Tagebuch führte. In manchen Jahren gab es Tage, die nur mit dem Eintrag »Schnaps« auftauchen. Dahinter könnte sich eine Fülle von Ausschweifungen verbergen. Man muss sich fragen, ob Burton immer ganz ehrlich zu sich selbst war, wenn er aufschrieb, was am Vortag geschehen war. Er notiert manchmal, dass er und Elizabeth einen Streithatten oder er sich in der Öffentlichkeit oder in geselliger Runde schlechtbenommen hatte, aber nur selten schildert er Einzelheiten. Über eine kurze Erwähnung hinaus wollte er solche Episoden nicht noch einmal durchleben. Ebenso gibt es andere Ereignisse und Begebenheiten, die ihn in keinem schlechten Licht erscheinen lassen, aber dennoch in den Tagebüchern nicht auftauchen.
Burtons Biograf Melvyn Bragg glaubt, dass die Tagebücher der Ort waren, an dem sich der Schauspieler vom Wirbel der Berühmtheit, den Klatschspalten und der spielerischen Boshaftigkeit der Interviews freimachen und ernst und ehrlich zu sich selbst sein konnte. Sie seien seine Niederschrift der Wahrheit: »Er schwor auf die Bibel dieser Notizbücher.«Zweifellos spürt man, dass er sich in den Tagebüchern bis zu einem gewissen Grad von seiner öffentlichen Person löst. Burton war bewusst, dass in der Presse, auf dem Fernsehbildschirm und im Kino jemand namens »Richard Burton« existierte, den Millionen von Menschen zu kennen glaubten (und glauben). Nicht immer erkannte er sich in dieser Person wieder. Sein Tagebuch bot ihm Gelegenheit zur Konstruktion seines eigenen Verständnisses davon, wer er war, woran ihm lag und wohin er ging.
Was die »Wahrheit« der Tagebücher betrifft, können wir ein Beispiel herausgreifen. Es gab damals und seither viel Spekulation um seine Beziehung zu der frankokanadischen Schauspielerin Geneviève Bujold, an deren Seite er in dem Film Königin für tausend Tage (1969) spielte. Elizabeth Taylor hegte offenbar den Verdacht einer Affäre zwischen den beiden und stritt sich mit Burton darüber. Burton selbst liefert in seinen Tagebüchern nicht den geringsten Anhaltspunkt für einen solchen Verdacht – ganz im Gegenteil. Nach seinem eigenen Zeugnis in einem der letzten Einträge aus der Sequenz der Tagebuchjahre am 15. März 1972 waren er und Elizabeth sich während ihrer Ehejahre treu, und es gibt nichts in den Tagebüchern, was dem widerspräche. Nichts anderes würde man erwarten, werden Skeptiker einwenden, schließlich hatte Taylor ja Zugang zu den Tagebüchern, und natürlich lässt sich nicht das Gegenteil beweisen. Die Belege für ein Verhältnis mit Bujold sind äußerst dünn gesät, sieht man von bloßen Mutmaßungen und
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