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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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stellte sich auf die Zehenspitzen. Griff über Noten und Alben hinweg und zog eine Plastiktüte von Aldi hervor, weiß-orange-blau, zerknittert, und irgendwas war da drin, nicht sonderlich schwer. Weder er noch Anna hatten je bei Aldi eingekauft. Es war demnach unmöglich, dass eine Tüte von Aldi in seinem Schrank lag. Simon stieg vom Stuhl, leerte die Tüte mit spitzen Fingern auf die Tischplatte und verzog sofort sein Gesicht: Es war eine Kappe. Eine ekelhafte, schmierige Kappe. Simon zuckte zurück wie vor einem lausigen Tier. Die Kappe war braun, und sie stank. Es war eine halbrunde Kappe, ohne Schirm, nicht aus Stoff, sondern aus hartem Leder, und lag jetzt auf dem Tisch wie ein in der Mitte durchgeschnittener harziger Handball. Die äußere Fläche oben. Simon glättete die Tüte und legte sie über eine Stuhllehne. Er wusste nicht, was er tun sollte. Kurz durchzuckte ihn ein Verlangen, die Kappe vom Tisch zu nehmen und aufzusetzen. Ein seltsames Verlangen, denn die Kappe war mehr als abstoßend, und immer noch roch sie nach, ja, wonach roch sie? Nach verbranntem Fleisch, dachte Simon. Er gab sich einen Ruck und legte die rechte Hand an die Kappe, sie fühlte sich rau an, er gab ihr einen leichten Schubser, als erwarte er, dass ihr Spinnenbeine wachsen und sie über den Tisch krabbeln würde, auf der Suche nach Schutz. Aber die Kappe blieb liegen. Mit spitzen Fingern drehte Simon sie um. Das Leder: spröde und unbeugsam. Er warf einen Blick hinein. Das Innere: pechschwarz, dazwischen rote Stellen, verschmiert. Auch klebten hier und da dünne Haare, die Simon nur sehen konnte, wenn er sich hinabbeugte, dann aber bohrte sich sofort der Gestank nach verbranntem Fleisch in seine Nase, und er richtete sich wieder auf. Simon schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern, griff zur Tüte, ließ die Kappe hineinfallen, holte einen Müllsack aus der untersten Küchenschublade, packte die Tüte hinein, verknotete den Sack, warf das Ganze in den Tretmülleimer unter der Spüle und wusch sich die Hände. Er fühlte sich erleichtert. Es war spät. Gerade noch Zeit, die Kaffeemaschine vorzubereiten, den Fernseher einzuschalten, Nachrichten zu schauen, aber alles seltsam zerstreut, Simon konnte sich nicht konzentrieren. Er bekam die Kappe nicht aus dem Kopf. Sie lag zwar im Mülleimer, aber Simon hatte das Gefühl, sie zerre da drinnen an ihren Fesseln.

7
    O utsourcing war das Lieblingswort Paul Brönners. Simons Chef hatte eine einzige gute Idee gehabt in seinem Leben und sie sofort umgesetzt. In allen Zweigen der Wirtschaft, bei Telefon-, Gas-, Strom- sowie großen Vermietergesellschaften, in Auto- und Elektrofirmen, einfach überall, wohin man auch blickte, vor allem in Deutschland, trudelten Tag für Tag haufenweise Beschwerdebriefe, -telefonate und -E-Mails ein, keine dieser Firmen und Gesellschaften hatte Lust, sich um den Unmut der Menschen zu kümmern, und Brönner hatte eine Firma gegründet, die nichts anderes darstellte als einen Blitzableiter für unzufriedene Kunden und Mieter, Brönners Büro nahm sich der undankbarsten aller Aufgaben an: die Wut abzufedern, die Menschen zu beruhigen und dafür zu sorgen, dass sie wieder zufrieden waren.
    Am Montagmorgen verbiss sich Simon regelrecht in seine morgendlichen Rituale, er genoss das Falzen der Zeitung, fand mit jedem Bogen wieder mehr Ruhe, verließ die Wohnung, schloss die Tür zweimal ab und ging zur Straßenbahn. Als er das Büro betrat, lächelte er zum ersten Mal, seit Gregor wieder in sein Leben getreten war. Er nahm alles in sich auf, die helle, warme Atmosphäre, die offenen Fenste r – es war Juni, und das Büro lag in einer Seitenstraße, sodass kein Autolärm stört e –, die Kollegen, die bereits da waren, und die Kollegen, die mit oder kurz nach ihm eintrafen, Frau Spämann zum Beispiel, mit Brille und verknautschtem Rock, Herr Sand mit dem Automatenblick, Herr Kunze, der schneller tippen konnte als alle anderen, Frau Reitmeier, jung, ehrgeizig, hübsch, die immer so viel Parfüm auftrug, dass die Büroluft erst um zehn Uhr den süßlichen Geruch verlor, die Neue, Miriam Hackethal, achtundzwanzig, unauffällig, immer korrekt, nie aufreizend gekleidet.
    Man hörte das Stakkato der Tastaturen. Simon konnte sich nicht konzentrieren, eine merkwürdige Missstimmung lenkte ihn ab. Die Begegnung mit Gregor steckte ihm noch im Kopf. Der oberste Beschwerdebrief auf seinem Stapel stammte von Hans-Josef Konrady. Simon stöhnte leise. Immer wieder Konrady.

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