Die Tarnkappe
Schon der fünfte Brief. Ein alter Mann, der sich bei seinen Vermietern, genauer gesagt, bei der Wohnungs- und Siedlungs-GmbH gemeinnütziger Bauträgerunternehmen BdK über die Kinder seiner Nachbarn beschwerte. Dieser Konrady regte sich über alles auf, vornehmlich über den Lärm. Kinder schreien nun mal ab und zu, hätte Simon am liebsten geantwortet, das lässt sich nicht verhindern. Auch das Fahren mit dem Bobbycar störte Konrady, das Kreischen im Planschbecken, ihn störte liegen gelassenes Spielzeug, so sehr, dass er das Spielzeug wegwarf, denn, so Konrady, so ein Zeug gehöre nicht auf den Gang, wo man gesundheitsgefährdend drüber stolpern könne und es den gesetzlich vorgeschriebenen Brandschutzfluchtweg blockiere. Er wolle eine Mietminderung, er zahle so lange nur noch die Hälfte, bis die Masowski-Plage ausgezogen sei. Es war Simon schwergefallen, bei seinen bisherigen Antworten freundlich zu bleiben. Er schüttelte den Kopf und legte den Brief weg, doch auch beim nächsten Brief schweiften seine Gedanken ab, Simon las zwar die Wörter und Sätze, aber er verstand sie nicht, ich kann mich nicht mehr konzentrieren, dachte er, ich muss aufpassen, was ich mache, das Büro hat eine neue Färbung, es ist alles anders heute, die Kollegen, die Atmosphäre, sogar das Blubbern des Wasserspenders. Simon sah aus dem Fenster, warm war es schon jetzt, die Sonne stieg immer höher, und er schwitzte. Es kann sich nur um Gregors Kappe handeln, dachte er. Es gibt keine andere Möglichkeit. Das hatte Simon schon gestern im Bett gedacht und dachte es jetzt erneut: Gregor hat die Kappe versteckt. Er hat unmöglich ahnen können, dass Simon am nächsten Tag schon die alten Alben aus seinem Schrank kramen würde. Es gibt kein besseres Versteck als das höchste Fach des Schranks mit den vor sich hingammelnden alten Alben. Und wenn Gregor die Kappe so gut versteckt hat, dann muss sie ihm wichtig sein, wertvoll.
Auf der Rückfahrt vergaß Simon, den Rest der Zeitung zu lesen. Er dachte nur an die Kappe. Zu Hause warf er Mantel und Aktentasche aufs Sofa, ging in die Küche, öffnete den Mülleimer, schnitt den blauen Sack auf, zerrte die Aldi-Tüte hervor und kippte die Kappe auf den Küchentisch. Simon setzte sich hin und betrachtete sie. Er konnte sich seine Aufregung nicht erklären. Es war doch bloß eine schmutzige, ekelhafte Kappe. Also gut. Er würde sie jetzt nach unten bringen, in die schwarze Tonne, und dann würden die Müllmänner die Kappe mitsamt dem übrigen Unrat in ihren Wagen poltern lassen und zur Deponie fahren, und auf der Deponie würde sie mit dem anderen Müll verrotten, oder aber sie würde verbrannt werden, sich in Rauch auflösen, und dann wäre endlich wieder Ruhe. Simon nahm die Kappe, ging durch den Flur und wollte schon die Wohnungstür öffnen, als sich mit einem Mal Bilder in seinen Kopf schoben, ein innerer, irrer Film, in dem er, Simon Bloch, durchs Treppenhaus hechtet, unten die Tonne aufreißt und sieht, dass die Tonne leer ist, ein innerer, irrer Film, in dem er in ein Taxi springt und sich zur Mülldeponie fahren lässt und Berge von Müll durchwühlt auf der verzweifelten Suche nach der Kappe, die er achtlos weggeworfen hat, nein, das war es nicht, was er tun wollte, nein, das war es nicht.
Da machten seine Hände sich selbständig, handelten, als ob sie nicht zu ihm gehörten, zwei fremde Hände, die jemand ihm geborgt und aushilfsweise an die Arme geklinkt hatte, die Hände schoben sich zusammen, auf Höhe seines Bauchs, kletterten höher, Zentimeter für Zentimeter, in aller Gemächlichkeit, würdevoll, zur Brust, zum Kinn, zur Stirn, und setzten Simon die Kappe wie eine Krone auf den Kopf. Sie saß perfekt, nein, sie passte sich seiner Kopfform an, schien sich in seine Haare zu wühlen, an seiner Kopfhaut zu nagen, es war, als schmatze die Kappe auf seinem Kopf, als vertilge sie etwas da oben, vielleicht seine Haare, seine Gedanken, einen Teil seines Hirns, irgendwas fraß sich seinen Weg zu ihm hinein, er spürte ein Knistern, etwas, was tief in ihm geschah und zugleich auf der Oberfläche, ganz so, als kehre sich alles in ihm Verborgene nach außen und alles Äußere nach innen, er blickte an sich hinunter, auf das, was er immer für den wichtigsten Teil seiner selbst gehalten hatte, auf seinen Körper, das Greifbarste, Sichtbarste seiner selbst, das, was seine Identität ausmachte wie nichts anderes, und Simon schien, als löse sich sein Körper auf, langsam, Stück für Stück,
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