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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Päckchen Zigaretten aus der Tasche gefischt und die schweren Einkaufstüten auf die Bank gestellt, wollte sich niederlassen, aber statt auf der leeren Bank landete sie auf Simons Knien, Simon schreckte auf und tat, was er nicht hätte tun sollen, packte die Frau an den Hüften, sie schrie, und dieser Schrei, der mit kurzer Verzögerung aus ihr brac h – als hätte ihr Geist zwei Sekunden gebraucht, um nachzukommen mit dem, was ihrem Körper gerade gescha h –, dieser Schrei war unaushaltbar. Simon legte der Frau die Hand auf den Mund, er hatte nicht aufgepasst, verdammt, wie hatte das passieren können, alles drohte zu eskalieren, er hielt die Frau umklammert, flüsterte ihr ins Ohr, sie solle aufhören zu schreien, er werde ihr nichts tun, und dann schob er sie neben sich auf die Bank, dabei kam er ihr verdammt nah, der Blick der Frau schwebte knapp vor seinen Augen, ins Blanke starrte sie, und die Frau hörte tatsächlich auf zu schreien, ihre Finger krallten sich ins Zigarettenpäckchen, ihre Augen kippten nach hinten, als suchten sie in ihrem Schädel irgendwas, was sie nicht finden konnten, und Simon floh. Ließ die Frau allein, drehte sich noch mal um, sah, wie sich jemand näherte, um der Frau beizustehen, aber die saß reglos dort, tonlos. Simon rannte, bis er nicht mehr konnte. Kauerte sich unter eine Tanne. Suchte wie ein Tier einen Unterschlupf. Mit jedem Atemzug kamen Gedanken. Bislang waren die Blicke der Menschen immer ins Leere gegangen. Doch diese Frau hatte ihm, ohne es zu wissen, direkt in die Augen geschaut. Und Simon hatte nackte Todesangst gesehen, nur Zentimeter entfernt. Die Frau hatte das Unfassbare berührt. Und ihre Angst schien ansteckend zu sein. Denn Simon merkte, wie er selber zitterte. Aber vor wem denn? Vor sich selbst? Vor seinem Körper, den er nicht sah? Oder vor alldem anderen Unsichtbaren in ihm: Alles, was er niemals gesehen hatte, all das Ungelebte, schmerzlich Verfehlte, all das, was er hätte tun können, die gesammelten Möglichkeiten, die nie Wirklichkeit geworden waren. Und alles, was er nie wieder würde sehen können, das, was er auf immer verloren hatte und wonach er sich hoffnungslos zurücksehnte. Und alles, was er nie hatte sehen wollen, all das in ihm Verborgene, Böse, Hässliche. Simon hielt diese Gedanken nicht aus, eilte nach Hause und verbrachte den Rest des Tages ohne Kappe. Alle paar Minuten schaute er in den Spiegel. Er wollte das Gefühl für sich selbst wieder gewinnen. Und einen solchen Blick wie den der Frau wollte er nie wieder sehen. Kurz streifte ihn der Gedanke, die Kappe zu vernichten. Er lachte auf. Niemals, dachte er. Nein, ich muss nur vorsichtiger sein bei dem, was ich tue. Mich nicht nur unsichtbar, sondern unantastbar machen, unhörbar. Simon verzichtete fortan auf das Erschrecken und ging so behutsam wie möglich als Nichts durch die Welt, hin zu den Menschen. Denn dorthin zog es ihn nach wie vor. Simon wollte sie kennenlernen, die anderen, wollte an ihren Gesichtern sehen, wie es ihnen wirklich ging, die Augen der ablesbare Zähler für den Stand des Innenlebens, aber nur die unbeobachteten Augen. Er wollte bei den Menschen sein in den Augenblicken, in denen sie allein waren, unmaskiert, ohne Bollwerk des Selbstschutzes, das sie täglich mit sich schleppten, wollte ihnen auf den Zahn fühlen, sich unauffällig im Rückraum halten, nur zuschauen, nichts tun.
    Es erregte ihn, ins Revier eines fremden Menschen zu dringen, ins Allerheiligste, ins Intimste. Bei Frau Hackethal, hatte er gedacht, handelte es sich um eine ganz gewöhnliche Frau. Jetzt schien sich das zu bestätigen. Sie tat das, was andere Frauen auch taten, wenn sie nach Hause kamen, zog sich aus, jedenfalls bis auf Unterhose und T-Shirt, lief eine Weile barfuß durch die Wohnung, das kannte Simon von Anna, die nach der Arbeit immer sagte, sie brauche Luft und Freiheit. Miriam Hackethal trat vor den Spiegel im Schlafzimmer, zog ihr T-Shirt hoch, sodass der Nabel frei lag, rollte mit Daumen und Zeigefinger die Speckschicht ihres Bauchs zusammen, das war wirklich nicht viel, Simon wäre es nie aufgefallen, von Speck konnte keine Rede sein, es war bloß Bindegewebe, Miriam war eigentlich eine schlanke Frau. Dann zupfte sie eine T-Shirt-Fluse aus dem Nabelloch, sagte Nabelflocke, pustete die Fluse weg und zog ein frisches T-Shirt über. Sie ging in die Küche, briet Spiegeleier, wärmte Kartoffeln in der Mikrowelle auf und erhitzte tiefgefrorenen Spinat im Topf auf dem Herd. Aß im

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