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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Stehen, an die Küchenzeile gelehnt, kaute gründlich, schluckte zeitlupenhaft. Als sie fertig war, sah sie aus dem Wohnzimmerfenster. Eine halbe Stunde lang. Wenn nichts geschieht, kann es ganz schön langweilig werden, andere zu beobachten, dachte Simon. Leider stand Miriam so, dass Simon ihr nicht in die Augen sehen konnte. Plötzlich drehte sie sich um, zog sich hastig an, warf ihre Jacke über, nahm den Schlüssel, verließ die Wohnung, die Tür fiel ins Schloss. Simon trat ans Fenster und sah, wie Miriam in ihr Auto stieg und wegfuhr. Er hatte keine Lust, auf sie zu warten. Aber trotzdem, etwas war da, was ihn zu Miriam hinzog. Er durchsuchte ihre Wohnung. Fand aber keine Briefe, kein Tagebuch, nichts, was sie ihm hätte näher bringen können. In einer Schublade stieß er immerhin auf einen Ersatzschlüsselbund: Haustür, Wohnungstür, Briefkasten und Auto. Simon sagte leise: »Ich komme wieder, Miriam, ich komme wieder!« Er steckte den Schlüsselbund ein und ging ins Krankenhaus.

13
    I m Kreißsaal würde er vielleicht Glück finden. Geburt. Leben. Anna hatte keine Kinder bekommen können, folglich war er noch nie dabei gewesen, wenn ein Mensch das Licht der Welt erblickte. Er verbrachte eine Nacht dort. Vier Kreißsäle gab es, und Kreißsaal Nummer eins war so ganz anders, als Simon es sich vorgestellt hatte: ein Futon, gemütlich, dazu helle, warme Farben, nichts Aseptisches. Da ging es los, nebenan, ein Wimmern, noch wagte Simon nicht, nachzuschauen. Das Wimmern wurde zum Schreien, zum Brüllen und Bellen, und dieses Schreien, dachte Simon, unterscheidet sich in nichts vom Schreien in einem Diktatur-Gefängnis, wenn der Gefangene nicht gestehen will. Abgekoppelt von dem, was geschah, waren die Schreie einfach nur Schreie, und Simon hielt sich die Ohren zu. Erst bei der zweiten Entbindung fand er den Mut zuzuschauen. In Kreißsaal Nummer drei gab es eine Liege, die Frau wurde an Geräte gefesselt, während der künftige Vater nicht wusste, wohin mit sich. Es herrschte Eisigkeit im Raum. Worte fielen: PDA, Wehentropf. Der Wehenschreiber schnellte in die Höhe, die Frau aber schlummerte ruhig, und der Mann tupfte ihre Stirn. Es kam und ging die Hebamme. Nach einiger Zeit sagte sie, es fange an. Sie holte den Arzt. Jetzt wäre es gut zu pressen, hieß es. Die Frau sagte, sie spüre nichts. »Sie müssen pressen!« Sie presste. »Das könnte eine Wehe sein«, sagte sie. Im Geburtskanal erschien die Schädeldecke des fast Geborenen, es steckte fest. Eine Saugglocke, blass-oranges Gummimützchen. Das Erste, was das Kind auf der Welt spürt: eine Gummimütze. Der Arzt hantierte mit der Geburtszange herum. Wartete. »Jetzt!« Sie presste. Der Kopf schob sich ein paar Zentimeter vor. Der Arzt blickte auf den Wehenschreiber. »Jetzt!« Irgendwann war der Kopf draußen. Der Arzt wartete weiter, schaute beim Warten in die Luft. »Jetzt!« In einer einzigen, fließenden, schraubenförmigen Bewegung, als hätte das Kind jahrelang geübt für diesen unvergesslichen Auftritt, schob sich der gesamte Körper hinaus, wie ein Turmspringer ließ sich das Kind aus dem Bauch fallen, in die Hände der Hebamme, konturlos, blassblau wie eine Wasserleiche, und es schrie nicht, das Kind, der Arzt durchtrennte die Nabelschnur, holte ihm Fruchtwasser aus der Kehle, kurz lag Hektik im Raum, dann aber reichte er das Kind der Mutter, eine Kasperlefigur, die jetzt plötzlich schrie, vor Schmerzen, auf der Welt zu sein, aus Angst, die Geborgenheit für immer verlassen zu haben, nie wieder Rückkehr in den Pool der Sorglosigkeit, jetzt zu dem geworden, was in ihm steckte, zum Menschen, der seinen ersten Atemzug getan hatte. Doch dann beruhigte es sich und reckte sich neugierig, um zu durchschauen, was da vor sich ging, sah die Mutter an und den Vater und warf auch einen Blick auf Simon Bloch, der kurz das Gefühl hatte, das Kind könne ihn sehen, woraufhin er ganz leise den Kreißsaal verließ.
    Da war das Mädchen, kaum vierzehn Jahre alt, das von der Schule nach Hause kam, den Rucksack in die Ecke pfefferte, in ihr Zimmer lief, dort bleiben wollte, aber von der Mutter runtergerufen wurde, zum Essen, Svenja, kein Gespräch kam in Gang. Simon schlich nach oben, ins Zimmer des Mädchens. Svenja kam bald, schloss die Tür hinter sich ab, machte Musik an, trat gegen das Sitzkissen, presste einen Namen aus giftig gespitzten Lippen, Frau Schörlemann, Hexe . Das Mädchen schmiss sich aufs Bett, lag dort, drehte sich auf den Rücken, sah zur

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