Die Tarnkappe
schrieb, dachte er pausenlos an die Kappe. Simon tippte weiter, als alle in der Mittagspause waren, aß nichts, trank nichts, tippte, als sei das Tippen für ihn Luft zum Atmen und Nahrung zugleich, wühlte sich durch Stapel, legte keinen Brief zur Seite, schrieb keine Aufschub-E-Mail, beantwortete alles umgehend. Als die Kollegen einer nach dem anderen Feierabend machten und das Büro verließen, blieb Simon sitzen. Er besaß als ältester Mitarbeiter einen Schlüssel für die Büro-Etage, die Kollegen dachten, er wolle seinen Schreibtisch ein wenig freiräumen, aber das stimmte nicht. Eine Besessenheit trieb ihn an, immer weiterzumachen, und hinter dieser Besessenheit stand sein Lebenswunsch, der ihn begleitete, seit er hier, bei Brönner, zu arbeiten begonnen hatte, es war der Wunsch, endlich fertig zu werden. Er arbeitete mit Schweißperlen im Gesicht, es war, als hätte er statt Augen zwei Münder unter der Stirn, die sämtliche Zuschriften in sich hineinschlangen und Antworten ausspuckten, aufs Papier, in den Monitor, es wurde Mitternacht, die Stapel lichteten sich und Simons Eifer wuchs, je sichtbarer das Ziel ihm vor Augen stand. Es störte ihn auch nicht, dass um ein Uhr morgens noch eine neue Beschwerde-E-Mail eintraf, er beantwortete sie, beantwortete auch die prompte Antwort des Schreibers, und dann war Ruhe. Die Ablageschale mit der ausgehenden Post quoll über. Simon nahm die Briefe und legte sie auf die Theke neben dem Eingang. Noch einmal kehrte er zurück zu seinem Schreibtisch, setzte sich und tippte den letzten Brief, seine Kündigung: Er schob sie durch den Türschlitz in Brönners Büro. Den Schlüssel warf er in den Briefkasten, nachdem er die Tür endgültig und zum letzten Mal hinter sich zugezogen hatte.
Die Nacht war klar, kalt, fahrig. Ein Wind zuckte um die Büsche des Parks. Simon zitterte. Er wusste genau, woher das Zittern kam: Er hatte die Kappe nicht mehr aufgesetzt seit, ja, seit mehr als achtundvierzig Stunden. Alles in ihm gierte danach, genau das jetzt zu tun. Er wusste, seine Arbeitswut war nicht nur dem Wunsch entsprungen, endlich fertig zu werden, nein, die Wut war zugleich eine Flucht gewesen, eine elende Flucht in die Ablenkung. Um eine Sache nicht zu tun: die Kappe aufsetzen. Um eine Sache nicht zu sehen: dass er schon süchtig war. Wie ferngesteuert eilte er zum Bahnhof, befreite die Kappe aus dem Rucksack, verbarg sie unterm Hemd, weil er sie auf der Haut spüren wollte, und stolperte zurück in die Nacht. Erst im dunklen Park knöpfte er sein Hemd auf, um die Kappe aus dem Bauch zu holen, nicht er selbst tat dies, sondern seine Arme, fünfköpfige Schlangen, die zum Kopf krochen, und die Erleichterung, die ihn durchfloss, ließ Simon aufatmen, jetzt war er wieder er selbst, vollständig, mit Kappe, ganz und gar Simon Bloch, in Sicherheit, es konnte ihm nichts passieren, und die Hände drehten sich vor seinen Augen, nur damit er sah, dass er sie nicht mehr sehen konnte.
Es galt, die Kappe auszukosten. Sich einen neuen Platz im Leben zu suchen. Nur wie? Am besten einfach drauflos, dachte Simon. Zunächst beobachtete er allerhand Taxifahrer und begleitete Nachtschwärmer, dann aber, als die Sonne aufgegangen war, holte er tief Luft, spürte Licht und Wärme auf einer Haut, die er selber nicht sah, drehte sich im Kreis, breitete die Arme aus und blinzelte nach oben, die Luft schmeckte seltsam gut, es roch nach zerquetschten Maikäfern. Alles war wüst. Eindrücke überschwemmten ihn. Die Menschen krochen aus ihren Löchern, und Simon ließ sich mitreißen, gab sich dem Strom hin, flog von einem Menschen zum anderen, niemand beachtete ihn, aber das war kein großer Unterschied zu seinem Leben ohne Kappe, auch da war man achtlos an ihm vorbeigelaufen. Simon begleitete die Leute ein Stückchen, schnitt Grimassen, machte Faxen, fuchtelte mit den Armen, keiner reagierte. Er wollte jetzt alles auf einmal aufnehmen. Man sah anders, wenn man nicht gesehen wurde, Bäume, Böden, Bänke, alles funkelte fremd. Die Menschen waren mit sich selbst beschäftigt. Einige sprachen in Handys, andere schauten teilnahmslos vor sich hin, auf den nächsten Schritt, der vor ihnen lag. Manche eilten, andere schlurften, alle mehr oder weniger unbeteiligt, ohne Augen für die Umgebung, die sie schon oft in ihrem Leben durchmessen hatten, alle schienen zu wissen, wohin sie wollten, hatten ein Ziel, unsichtbar, wie eingestanzt. Simon hörte ein Geräusch in seinem Rücken und drehte sich um: ein Surren
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