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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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anderen als reiner Blick; das Verlorene in der Konzentration; das Mechanische in der Routine; das Vergessene in der Versenkung. Wenn einem etwas gelang, quollen die Augen über vor Zufriedenheit; wenn jemand einen Fehler machte, kniffen sie sich zusammen; wenn jemand etwas verstand, wandelten sich die Augen in zwei winzige Köpfe, die behutsam nickten, zum trägen Applaus der Lider. Simon tauchte ein in die Welt der anderen, schippte das fremde Leben Schicht für Schicht beiseite, um zu erspüren, was darunter lag. Gern setzte er sich rücklings vor die Fernseher auf den Boden, und während die Menschen über ihn hinweg in die Monitore blickten, schaute er, Simon, zu ihnen hin, und manchmal wanderte der Blick der Menschen vom Fernseher zur Uhr. Sie müssen noch zwei Stunden umbringen, dachte er, ehe sie ins Bett können, sie trinken Ersatzleben. Immer mehr Mienen studierte Simon, und hinter allen Augen witterte er Traurigkeit. Egal, wie groß die Selbsttäuschung war, in wenigen stillen Augenblicken bröckelte der Blick und gab Sicht auf das, was dahinter, darunter lag: nichts. Lebensvollzugsanstalt. Simon liebte dieses Wort. Man ist in den Knast des Lebens geboren und tigert darin auf und ab, lebenslänglich, und wartet auf den Tag der Entlassung, den Tod, man wartet mit Schrecken darauf und mit Sehnsucht.

14
    S imon wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war seit seiner Kündigung und dem Beginn des Lebens unter der Kappe, ob drei Wochen oder vier Wochen, jedenfalls hatte er lange genug getrödelt. Schluss mit Zusehen, ihn packte der Wille zur Tat. Er bereitete alles sorgfältig vor, Computerraum, Bewegungsmelder, Kameras, Kombination, Hauptkassierer, Geschäftsführer, manchmal war ihm, als könne er sich selbst von außen beobachten bei dem, was er tat. Als er alles wusste, was er wissen musste, ging er in die Stadt, zur Sparkasse, begleitete den Hauptkassierer und den Geschäftsführer, die den Bewegungsmelder ausschalteten, mit zwei Schlüsseln gleichzeitig den Tresorraum öffneten und den gefüllten Geldwagen hineinschoben. Simon folgte ihnen. Sie verfrachteten das Geld in einen der Tresore, verließen den Raum, schalteten den Bewegungsmelder ein, Simon blieb drinnen. Sobald die Tür geschlossen war, trat er ein Luftloch, und der Bewegungsmelder schlug an, es kamen Männer, die alles kontrollierten, mit den Schultern zuckten, und dieses Spiel wiederholte Simon so oft, bis sich die herbeigerufenen Techniker ratlos über ihre Schädel fuhren, den Bewegungsmelder ausschalteten, Defekt, technische Störung, gründliche Durchsicht vonnöten, Reparatur morgen in aller Frühe.
    Simon wartete ein paar Stunden, ehe er die Kameras ausknipste. Dazu gab es einen Schalter an ihrer Rückseite. Von jetzt an blieb ihm nur wenig Zeit. Er zückte seine kleine Taschenlampe, steckte sie in den Mund, tippte die Kombination ein, nahm fünf Packen Hundert-Euro-Scheine raus, nur fünf, das reicht, fünf ist gerade so viel, dass es nicht auffällt, verstaute die Beute unterm Hemd, fünfzigtausend Euro, schloss die Tresortür und zog sich in eine Ecke zurück. Schon kamen die Wachmänner. Sie inspizierten die Kameras. Betätigten die Schalter. Die Tresortür war verschlossen, man schöpfte keinen Verdacht. Technische Störung. Technische Störung, das ganze Leben ist eine technische Störung, und Simon verkniff sich das Lachen. Aber alles ging so schnell, dass sich ihm keine Gelegenheit bot, unbemerkt aus dem Raum zu schlüpfen, und so blieb ihm nichts übrig, als drinnen zu bleiben. Die ganze Nacht.
    Er war noch nie unter der Kappe eingeschlafen und hatte keine Ahnung, was das für ihn bedeutete. Simon legte eine Hand an den Kopf. Er hatte sich längst an die Kappe gewöhnt. Mit ihr fühlte er sich immer sicherer. Aber unter ihr einschlafen? Vielleicht wäre es besser, wach zu bleiben. Er tigerte durch seine goldene Zelle, und um sich abzulenken, spielte er in seinem Kopf Filmthemen durch, immer wieder die Musik zu Der Schatz der Sierra Madre von Max Steiner, der noch die Zeit erlebt hatte, in der es Musik im Film lediglich beim Vor- und Abspann gab und während des Films nur, wenn ein Barpianist oder ein Grammophon oder ein ganzes Orchester zu sehen war, damit der Zuschauer sich nicht permanent fragt, woher denn die Musik eigentlich stammt, die er die ganze Zeit hört, und Steiner war einer der ersten gewesen, die Musik auch ohne vorweisbare Quelle zur Szenenuntermalung einsetzte. Simon hockte sich auf den Boden, hatte Angst

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