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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Decke, da oben klebten Sterne, die jetzt, im Hellen, nicht leuchteten, Relikte einer Kindheit, die für immer vorbei war. Die rechte Hand ballte sich zur Faust. Das Mädchen schabte die Knöchel über die Rippen der Heizung und klemmte sie dann vor Schmerz zwischen die Zähne.
    Da war der Mann, der alles fein säuberlich wegstellte, die reinste Manie, der Kerl war etwa vierzig, trug einen schicken Anzug, kam nach Hause, ein Penthouse, kein Krümel, alles wie geleckt, die Wohnung ein Hochreinlichkeitstrakt. An der Tür stand der Name Kronau. Er zog sein Jackett aus und eine Hausjacke an, setzte sich in den Sessel und nahm eine im rechten Winkel auf dem Beistelltisch liegende Fernsehzeitung in die Hand, schlug sie auf und schaute sie durch, wobei er kerzengerade saß, und das sah aus, als hätte er den Abstand der Beine vorher berechnet. Mit beflissenem Gesichtsausdruck sah er fern, als müsse er etwas erfüllen, was jemand ihm aufgetragen hatte. Alles wirkte wie das Gegenteil von Entspannung. Er verzog keine Miene, ließ das Programm still an sich vorübergleiten, als stünde irgendwer mit geladener Pistole in seinem Rücken. Simon war froh, als Kronau mit geübter Geste die Fernbedienung griff und den Fernseher ausschaltete. Kronau blieb noch kurz im Sessel sitzen und legte Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel.
    Da war das Pärchen, Mitte zwanzig, im Café saßen die beiden, ihre Blicke hakten sich ineinander fest, ihre Hände suchten sich auf dem rauen Holztisch, die Finger glitten zwischen die Finger des anderen. Die Frau schien nicht so enthusiastisch zu sein wie der Mann. Simon mochte sie nicht, er hätte nicht sagen können, weshalb, aber irgendwas störte ihn, nicht ihr Aussehen, nicht ihre leicht zusammengekniffenen Augen, eher etwas Ungreifbares, wie die Aura, die ein Mensch verbreitet. Wie sehr man sich leiten lässt von Dingen, die nicht zu sehen sind, dachte Simon. Ins Haus zu gelangen, fiel ihm nicht schwer, die Haustür ruckelte behäbig zurück ins Schloss, es blieb genügend Zeit, sich reinzuschieben. An der Wohnungstür war zunächst Schluss. Doch Simon hatte den Kohle-Trick erfunden, wie er ihn nannte: Er legte einen Zwanzig-Euro-Schein in die Mitte des Treppenhauses, klingelte beim Pärchen, Lisa Faber, Torsten Schmidt, hörte, wie Lisa zweimal ein Hallo? in den Türsprecher rief und, als keiner antwortete, die Wohnungstür öffnete und hinauslugte. Das Licht brannte noch. Sie wollte schon abdrehen, als sie den Geldschein sah. Während sie ins Treppenhaus trat und ihn aufhob, schlüpfte Simon, der an der Wand neben der Tür gewartet hatte, in die Wohnung und tastete sich voran. Lisa kehrte ins Wohnzimmer zurück, Simon stand an der Bücherwand, und Torsten fläzte sich auf dem Sofa. Lisa erzählte die Sache mit dem Geldschein, und Torsten sagte nur, sie solle die Kohle rüberschieben, Lisa sagte, das sei doch creepy , die Klingel, das Geld, und Torsten sagte, das eine müsse mit dem anderen nichts zu tun haben. Dann entbrannte ein Streit, Lisa hatte Schulden bei ihm, Torsten sagte, er brauche das Geld zurück, er wolle endlich das Auto kaufen, und ihm fehlten noch genau die Dreitausend, die er ihr geborgt habe, Kohle, maulte Lisa, immer nur Kohle. Aber sie stritten nur kurz, Versöhnungsreflex, sie umarmten sich, Simon drehte den doppelten Ballhaus, nahm jeden Zentimeter dieser Umarmung wahr, Torsten hielt die Augen geschlossen bei der Umarmung, er sagte Tut mir leid , und Lisa sagte Schon gut , Torsten sagte Ich liebe dich , und Simon stand genau in der Mitte bei diesem Satz, auf den Lisa nicht antwortete, und er sah, wie Lisa die Augen verdrehte und lautlos stöhnte, Luft, die unhörbar entwich und Torstens Haare kurz blähte, ein leises Schimmern der Augen, und in Lisas Schimmern, in ihrem Schweigen und Augenverdrehen sah Simon die Zukunft der beiden vor sich, eine Zukunft, die Trennung bedeutete, Simon stellte sich noch mal auf Torstens Seite, dessen Inbrunst ihm echt schien, aber wer weiß schon, was hinter geschlossenen Lidern vor sich geht, dachte Simon, und dann verließ er die beiden, er wusste jetzt, dass eine Umarmung tödlich sein kann, dass man gerade in der Umarmung nie weiß, was der andere hinterm Rücken tut und wie er schaut und was er denkt: In der größten Nähe ist man sich manchmal am fernsten.
    Simon sah in die Augen von Fabrikarbeitern, Postboten, Angestellten, und er sah länger in ihre Augen, als irgendein Mensch es sich je hätte erlauben können. Der Blick der

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