Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Haut war weder von Auszehrung noch von einer anderen üblichen Armenkrankheit gezeichnet, sondern rein und klar. Sie war es gewohnt, dass ihre Katzenaugen jeden Betrachter fesselten, genau wie ihr blühender Leib. Nur ihre etwas zu vollen Lippen, die ganz für die Lust und fürs Lachen geschaffen schienen, störten den Geschmack vornehmer Verehrer.
Zu diesen Zimperlingen gehörte der Soldat Goswin nicht. Ihm gefiel, was er im Feuerschein der Pechpfanne erblickte. Außerdem verachtete er Hilfswächter wie den Gerbergesellen, die mit nichts als einem Spieß bewaffnet große Krieger mimten.
»Hast du dieses Mädchen beleidigt?«, herrschte er den Handwerksburschen an. Bettler scharten sich um das Trio.
»Eine Hure beleidigen? Wie soll denn das gehen? Und von wegen Magd! Was sollte eine Jungfer am Abend hier im schlimmsten Teil des Hafens zu suchen haben?«, verteidigte sich der Spießträger.
Ein Milchgesicht, entschied Goswin bei sich und brachte den Jüngling mit Blicken zum Schweigen. Dann wandte er sich mit der Würde, die ihm sein Amt verlieh, der verfolgten Unschuld zu und genoss die Spannung der Umstehenden.
»Nun, wer bist du?«
Sidonia hielt den Blick gesenkt und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Tja, wer war sie? Unmöglich konnte sie zugeben, dass sie die Tochter des Kaufmanns Claas van Berck aus der Minoritenstraße war. Dabei würde der Name diese beiden Toren in den Kot der Gasse zwingen, wo sie hingehörten. Der Name van Berck war in Köln zwar alles andere als beliebt – aber gefürchtet.
Der Name ... Endlich kannte sie die Lösung. Sie unterdrückte ein Lächeln: »Ich bin eine Magd aus dem Haus des Claas van Berck und soll einen Gast meines Herrn abholen.«
Van Berck! Der Spießbürger zog sich wie geprügelt in den Schatten seiner Pforte zurück. Als Angehöriger der unwichtigen Ledergerberzunft wollte er sich in keinem Fall mit einem Mitglied der Kaufmannsgaffel Windeck anlegen. Nicht einmal mit einer Magd aus dessen Haus. Van Berck hatte schon ganz andere ins Unglück gerissen.
Goswin nahm die eiserne Helmkappe vom Kopf und kratzte sich am Schädel. Gemurmel erhob sich. Der Soldat rückte den Bund seiner geschlitzten Pluderhose zurecht. Er war entschlossen, dem Hilfswächter und dem Publikum seinen Schneid und Scharfsinn zu beweisen. »Warum schickt van Berck keinen Knecht oder bezahlten Leuchtmann für diese Aufgabe? Er hat doch Gesinde und Geld genug für solche Dienste.«
Sidonia biss sich auf die Lippen. Die Frage war gut. »Nun ...«, hob sie an, als von dem Lastkahn in ihrem Rücken ein grauenerregendes Brüllen ertönte. Für einen Moment erstarben alle Stimmen und Geräusche. Gaffer und Wächter wandten sich um.
Sidonia drängelte sich zum Kai vor und duckte sich hinter leeren Heringsfässern. Jetzt musste sie nur auf eine Gelegenheit warten, um im Gedränge in die Dunkelheit abzutauchen. Vielleicht würde es ihr ja doch noch gelingen, zum Hauptkai und zu dem Schiff zu gelangen, auf dem der spanische Reliquienhändler des Vaters eingetroffen war. Ihre Abenteuerlust besiegte den Schrecken, den der Stadtsoldat ihr eingejagt hatte.
Pah, einer Sidonia van Berck stellte sich niemand in den Weg! Und erst recht nicht der künftigen Braut Adrians von Löwenstein! Gott gebe, dass Vaters Reliquienhändler eine Nachricht von dem fernen Ritter aus Spanien brachte. Sie kannte ihren Bräutigam zwar nicht, aber es waren genügend Geschichten im Umlauf, um sich das Bild eines Helden auszumalen. Eines Helden, der sie in ein Leben voller Abenteuer und Reisen entführen würde. Reisen!
Ein weiteres Brüllen riss sie aus ihren Gedanken. Im Licht flackernder Schiffsfackeln erkannte Sidonia den Ursprung des Lärms. Links von ihr, auf dem Deck des Lastkahns, fletschte ein Bär die Zähne. Hinter ihm schwang ein Tierbändiger die Peitsche. Gaukler! Entzückt beobachtete Sidonia den Tumult, den die Spielleute verursachten.
Der Soldat Goswin verfluchte seinen Ausflug zum Nordkai. Mit einem Bären wollte er es nicht aufnehmen.
2
Entzückt reagierte hingegen auch ein Dominikanermönch auf den Aufruhr am Nordkai. Der Tumult lenkte alle Aufmerksamkeit von der niederländischen Koef im Domhafen ab, auf der er einen Jakobspilger entdeckt hatte. Angewidert musterte er das schmächtige Männlein von unten.
Gleich fünf Muscheln prangten am Hut dieses Berufspilgers und Reliquienhändlers. Die Jakobsmuscheln waren Beweis und Werbung für seine Wallfahrten zum spanischen Grab des Apostels. Reiche Kölner
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