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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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er verließ sich nur ungern auf die oft phantasievollen Übersetzungen der Kosaken.
    Für Schirin war Wanja der erste männliche Russe, den sie zu Gesicht bekam, denn die Händler, die den Stamm aufsuchten, waren mischblütig oder asiatischer Herkunft. Er war noch ein Stück größer als sie und mindestens dreimal so breit und hatte ein grobes, kantiges Gesicht mit einer Knollennase und kleinen, fast farblosen Augen. Am meisten wunderte sie sich über seine Kleidung, die sich von jener der ihn begleitenden Kosaken stark unterschied. Anstelle eines Kaftans trug er einen eng anliegenden, grünen Rock mit zwei Knopfreihen, von denen die eine anscheinend nur zur Zierde angebracht worden war, und hautenge, graue Hosen, deren Beinlinge in unbequem aussehenden, kniehohenStiefeln steckten. Auf dem Kopf balancierte er ein seltsames Gebilde, das an ein Dreieck gemahnte und so aussah, als könne der nächste Windstoß es fortblasen. Bewaffnet war er mit einem langen Säbel, der in einer einfachen Lederscheide steckte, und einer Pistole, für die ihm jeder Krieger ihres Stammes drei Bündel Zobelfelle bezahlt hätte – ohne Pulver und Blei, die man ebenfalls noch benötigte.
    Während Schirin Wanja musterte, führte einer der Tataren das für sie bestimmte Pferd heran. Es handelte sich nicht um einen der kleinen, wenn auch ausdauernden Steppengäule, sondern um einen großrahmigen, langgliedrigen Hengst mit einem edel geformten Kopf und einem Fell, das in der Morgensonne wie Gold schimmerte. Solche Pferde wurden von den Bergstämmen des Kaukasus gezüchtet und liefen mit dem Wind um die Wette. Nur die reichsten Herren konnten sich so ein Tier leisten. Wanjas Achtung vor dem Sohn des Khans stieg noch mehr, und er verneigte sich vor ihm.
    »Wenn es Euch genehm ist, würde ich gerne aufbrechen, Euer Gnaden!«
    Da der hochmütige Bursche ihn auch diesmal keiner Antwort würdigte, wandte er sich verärgert an Kitzaq, der sie nach Karasuk begleiten würde. »Wir müssen weiter!«
    Bevor Kitzaq Schirin auffordern konnte, in den Sattel zu steigen, saß sie bereits auf dem Pferd. Der Hengst stampfte nervös, und obwohl sie wie die meisten Frauen des Stammes eine recht gute Reiterin war, bereitete es ihr Mühe, ihn unter Kontrolle zu halten. Noch während sie mit Goldfell kämpfte, brachten die Tataren ein weiteres Pferd mit einem gut gefüllten Packsattel heran, der die Ersatzkleidung und all jene Dinge enthielt, mit denen Zeyna die Täuschung perfekt abrunden wollte.
    Wanja stieg nun ebenfalls auf seinen Braunen und winkte Bahadur an seine Seite. Da die Kosaken ihrem Wachtmeister folgten, ohne sich um das Packpferd zu kümmern, blieb Kitzaq nichts anderesübrig, als die Zügel des Tieres selbst in die Hand zu nehmen. Diese Aufgabe wurde normalerweise den jüngsten Kriegern übertragen, und er wollte Schirin schon zurechtweisen. Doch als er sich ihr zuwandte und sah, wie sie hoch aufgerichtet und mit abweisend stolzer Miene im Sattel saß, war es ihm, als hätte ein Dschinn sie tatsächlich in einen Jüngling verwandelt.
    Kitzaq versuchte, die abergläubische Furcht abzuschütteln, die ihn gepackt hatte, indem er sich daran erinnerte, wie oft das Mädchen schon als Kind versucht hatte, es gleichaltrigen und sogar einigen älteren Knaben gleichzutun. Damals hatte der ganze Stamm über die verrückte Tochter der Russin gespottet, doch ihm war nun nicht mehr zum Lachen zumute. Zum Glück war Schirin eine passable Schützin mit Pfeil und Bogen, und da einige der Jungen ihr erlaubt hatten, mit ihnen zu üben, vermochte sie den Säbel so gut zu führen, dass sie sich nicht sofort durch Ungeschicklichkeit verraten würde. Zeyna hat das Richtige getan, dachte er beeindruckt. Schirin gab eine prächtige Geisel ab, und ihr Weggang war kein Verlust für den Stamm, denn sie war eine Unruhestifterin gewesen, die immer wieder versucht hatte, gegen die Regeln anzukämpfen, die Frauen naturgemäß einschränkten.
    Schirin war nicht so wohl zumute wie Kitzaq. Als das Ordu hinter ihnen zurückblieb, musste sie an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Da sie einen Mann darstellen sollte, ließ sie ihr Gesicht zu einer Maske erstarren und richtete den Blick nach vorne, um beim Anblick des Dorfes nicht doch die Beherrschung zu verlieren. Im Gegensatz zu ihr drehten die Russen sich immer wieder um, als befürchteten sie einen Hinterhalt, doch Stunde um Stunde verging, ohne dass etwas geschah. Allmählich löste sich die Anspannung, und die Kosaken

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