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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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ebenso über die Fülle der Dinge, die hier ausgestellt wurden, wie über die Vielzahl an Trachten, die sie zu Gesicht bekam. Zumeist begegneten ihr Soldaten, Kosaken in Pluderhosen und langen Kaftanen, die Pelzmützen schief auf dem Kopf und lange Säbel an den Hüften, aber auch Männer, die wie Wanja und die Torwachen kurze Röcke und seltsame Hüte trugen. Es waren genug Krieger, um ihren eigenen Stamm und dessen Nachbarn niederzukämpfen, und so wunderte sie sich nicht mehr, dass ihr Vater, den sie immer für einen klugen und mächtigen Khan gehalten hatte, von diesen Männern besiegt und gefangen genommen worden war.
    Als die Gruppe an einem großen Gebäude mit vergitterten Fenstern vorbeiritt, entdeckte Schirin mehrere Männer ihres Stammes, die sie verblüfft anstarrten. Zu ihrer Erleichterung rief ihr keiner etwas zu, das sie hätte verraten können. Einer von ihnen winkte allerdings aufgeregt nach hinten, und keine drei Herzschläge später tauchte ihr Vater am Gitter auf. Für einen Augenblick drückte seine Miene Fassungslosigkeit aus, dann aber lächelte er sichtlich zufrieden. Schirin wäre gerne zu ihm geritten, doch Wanja bog in eine andere Straße ein, so dass das Gefängnis ihren Blicken entzogen wurde.

V.
    Oberst Boris Michailowitsch Mendartschuk sah die Offiziere, die in den letzten Wochen unter seinem Kommando gekämpft hatten, der Reihe nach an und hob sein Glas. »Auf Pjotr Alexejewitsch, den Zaren aller Russen!«
    »Auf den Zaren!« Die Männer tranken und stellten die Gläser hart auf den Tisch zurück. Ihre Gesichter drückten je nach Temperament Zufriedenheit oder Erleichterung aus, weil der Aufstand endlich niedergeschlagen war.
    Nur Oleg Fjodorowitsch Kirilin, Hauptmann einer Kompanie der Ustiugski-Grenadiere unter Oberst Oserow, musste wie so oft aus der Rolle fallen. »Wenigstens ist dieser Wodka genießbar, Boris Michailowitsch, was man vom sibirischen Essen nicht behaupten kann.« Er sagte es in einem Ton, als habe man ihm bisher nur Aschekuchen und Spülwasser vorgesetzt.
    Mendartschuk presste die Lippen zusammen und warf einen Blick auf die Überreste des ausgiebigen Mahles. Nur ein arroganter Schnösel wie Kirilin konnte sich über die Auswahl der Speisen beschweren, die hier serviert worden waren. Es hatte reichlich Fisch gegeben, gebraten, gekocht und geräuchert, dazu Wildbraten, schmackhafte Kebabspießchen in Jogurtsoße und als besondere Delikatesse gesalzenen Fischrogen, der echtem Kaviar im Geschmack kaum nachstand. Die Köche hatten auch Mütterchen Russland Ehre gemacht, das die Rezepte für die scharf gewürzte Gemüsesuppe und die köstlichen Piroggen geliefert hatte.
    Der Oberst schüttelte innerlich den Kopf über Kirilin, der die Nase so hoch trug, als würde ihn sogar der Anblick seiner Kameraden beleidigen. Dabei war dieser Mann der unfähigste der ihm unterstellten Offiziere, führte sich aber so auf, als wäre er derKommandeur des Preobraschensker Garderegiments höchstpersönlich. Der Oberst spürte, wie seine Wut auf Kirilin wuchs, und freute sich nicht zum ersten Mal, ihn bald los zu sein. Um andere Offiziere tat es ihm wiederum Leid. Sergej Wassiljewitsch Tarlow hätte er gerne bei sich behalten, denn der junge Dragoneroffizier besaß ein besonderes Geschick für die Sibirier, mochten es die eigenen Kosaken sein oder die einheimischen Stämme. Die Art und Weise, wie er Möngür Khan und seine Krieger verfolgt und gefangen genommen hatte, machte ihm so rasch keiner nach. Doch auch dieser viel versprechende Offizier würde bald nach Westen in einen Krieg ziehen, der ganz anders war, als Mendartschuk ihn kannte.
    Der Oberst musste nur die neuen Uniformen ansehen, die seine Gäste trugen, diese kurzen, eng anliegenden Waffenröcke, die nur bis zu den Oberschenkeln reichten und mit grellbunten Aufschlägen und Säumen geschmückt waren, und die Kniehosen, die wie eine zweite Haut auf den Beinen klebten. So etwas hatte es in seiner Jugend nicht gegeben. Russland hatte sich sehr verändert, und er wusste nicht zu sagen, ob es zum Guten ausschlagen würde. Als er vor ein paar Jahren so eine Uniform erhalten hatte, wie die jungen Offiziere sie trugen, hatte er sie in eine Truhe gelegt und seinen kaftanähnlichen Waffenrock anbehalten, der im Sommer den Staub fern hielt und im Winter wärmte.
    Jetzt bedauerte er es ein wenig, sich an diesem Tag nicht ebenso neumodisch gekleidet zu haben wie seine Untergebenen, denn die Milchgesichter um ihn herum mussten ihn in

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