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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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ein stacheliges Gebüsch oder ein kleines Wäldchen aufgelockert wurde. Zu Beginn hatte Schirin noch die Bäche gezählt, die sie durchquerten, doch als sie die Grenzen der Weidegründe ihres Stammes erreichten, verdrängte sie jeden Gedanken an ihre zurückbleibende Heimat, um nicht in Tränen auszubrechen. Zur Ablenkung versuchte sie sich vorzustellen, was sie bei den Russen erwarten mochte.
    Als sie Kitzaq über die Russen ausfragen wollte, konnte er ihr nur berichten, dass diese seit mehr als einem Lebensalter ihre Kosaken schickten, um von den sibirischen Stämmen den Jassak einzutreiben, die Pelzsteuer, wie sie es nannten. Die Männer des Zaren behandelten die Sibirier dabei wie Sklaven und machten sich mehr und mehr verhasst. Bis zu Möngürs Stamm waren sie bisher noch nicht vorgedrungen, doch das würde sich nach dieser Niederlage wohl ändern.
    Nach Kitzaqs Bericht behielt Schirin die Kosaken noch schärfer im Auge, die ihr mit ihren lauten Stimmen und prahlerischen Worten Angst einjagten. Sie beobachtete auch Wanja, denn sie fragte sich, ob er wohl noch schlimmer war als die berüchtigten Bluthunde des Zaren, und zuckte jedes Mal innerlich zusammen, wenn er seine Leute anschnauzte. Sie wagte es daher auch nicht, mehr als die notwendigsten Worte mit dem Mann zu wechseln, und war froh, als sie die an einem kleinen, von Schilf fast völlig überwucherten See liegende Siedlung Karasuk erreicht hatten. Anders als ihr heimatliches Ordu und andere ihr bekannte Nomadenlager bestand der Ort zur Gänze aus Holzhäusern, die von einem hohen, wehrhaften Palisadenzaun umgeben waren. Er zog sich wie ein mit der Schnur gezogenes Rechteck um die Häuser und endete an den Ecken jeweils in einem hohen, ebenfalls hölzernen Turm, auf dessen Plattform Soldaten die Umgebung beobachteten.
    Auch im Innern der Siedlung gab es einen Turm, der schlanker und höher war als jene der Palisade. Er trug eine zwiebelförmige Kuppel, auf der eine hoch aufragende Stange mit je zwei Querhölzern befestigt war. Schirin erinnerte sich, dass ihre Mutter solche Symboleheimlich in den Sand gezeichnet und ihr erklärt hatte, dieses Kreuz sei das Symbol ihrer Religion. Einmal, kurz vor Mutters Tod, hatte eine andere Frau ihr Tun entdeckt, und Mutter und sie waren von Möngür deswegen gezüchtigt worden.
    Der Trupp näherte sich einem Tor, das von einer größeren Gruppe Soldaten bewacht wurde. Die Männer hatten runde Mützen aus Stoff aufgesetzt, trugen kurze, grüne Röcke und hielten so ähnliche Gewehre in den Händen wie jenes, das ihr Vater von einem russischen Händler eingetauscht hatte. Nur endeten diese hier in einer spitz zulaufenden Klinge und glichen eher Speeren. Schirin fragte sich, ob den Russen wohl die Munition ausgegangen war, weil sie die Schusswaffen mit dolchähnlichen Enden versehen hatten, doch als sie an den Soldaten vorbeiritt, sah sie, dass die Spitzen nicht aus den Gewehren herausragten, sondern an einem Ring um den Lauf befestigt waren. Sie stellte es sich mühselig vor, solch eine Waffe zu laden, ohne sich dabei zu verletzen, und fand, dass die Russen ein seltsames Volk waren.
    Einer der Soldaten trat vor und salutierte vor Wanja. »Willkommen, Iwan Dobrowitsch. Dein Hauptmann erwartet dich bereits.«
    Wanja nickte erleichtert. »Also ist Väterchen Sergej Wassiljewitsch mit seinen Kosaken und den Gefangenen gut angekommen.«
    »Freilich, Väterchen! Vorgestern zur dritten Stunde nach Mittag ist er in die Stadt eingeritten. Wenn du erlaubst, werde ich euch anmelden.«
    »Du solltest schon unterwegs sein!« Wanja scheuchte den Soldaten fort, denn er wollte seine Geisel so schnell wie möglich abliefern. Dieser Bahadur sah zwar aus wie ein zivilisierter Mensch, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, der den braven Alten misstrauisch machte.
    Während der Wachsoldat im Laufschritt in die Stadt eilte, folgte Wanjas Gruppe ihm etwas langsamer, so dass Schirin Zeit fand, sich neugierig umzusehen. Karasuk schien ihr eine riesige Stadt mit unzähligen Gebäuden zu sein. Die größeren Häuser bestanden aus rohbehauenen und aufeinander gestapelten Baumstämmen, aber die meisten sahen so aus, als hätte man sie aus dünnen Brettern zusammengenagelt. Bei etlichen der kleineren Gebäude konnte man Teile der Vorderwand herabklappen, so dass sie als Tisch dienten, und auf den so entstandenen Flächen lagen allerlei Waren, die von Männern und Frauen verschiedenster Völker lauthals zum Kauf angeboten wurden. Schirin wunderte sich

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