Die Tatarin
tollen Kerl, der genau wüsste, was seinen Kameraden Not täte.
Schirin begriff nicht, was vor sich ging, und verband auch nichts mit den Ausdrücken, die die Offiziere in ihrer Begeisterung ausstießen. Es waren Worte, die ihre Mutter ihr nicht beigebracht hatte, doch die allgemeine Ausgelassenheit schien ihr kein gutes Vorzeichen zu sein. In welche Schwierigkeiten, fragte sie sich, würde sie jetzt wieder hineingeraten?
Raskin nahm einen letzten Schluck aus der Wodkaflasche, warf sie lachend durch das geschlossene Fenster ins Freie und sah für einen Augenblick dem Diener nach, der hastig und mit langem Gesicht den Saal verließ. Der Mann würde einen Glaser finden müssen, der das Fensterglas ersetzte, bevor alles im Saal zu Eis erstarrt war.
»Kommt, Leute!«, rief er und wankte zur Tür hinaus.
Der Weg zu Madame Reveilles Haus war weit, doch zum Glück benötigtensie keine Fähre, denn in ihrem betrunkenen Zustand wären einige der fröhlichen Burschen rascher zu einem Bad zwischen den Eisschollen auf der Newa gekommen, als ihnen hätte lieb sein können. Einige näherten sich schon auf eine Besorgnis erregende Weise dem Ufer, und Schirin zog sie rasch zurück, ehe sie auf dem spiegelglatten Damm ausrutschen und in den Fluss schlittern konnten. Als Dank erhielt sie nach Schnaps stinkende Küsse auf die Wangen und wischte sich so unauffällig wie möglich mit dem Ärmel ihres Mantels über das Gesicht. An die Unsitte der Russen, sich andauernd in die Arme zu fallen und schmatzende Küsse zu tauschen, würde sie sich wohl nie gewöhnen können.
Das Haus der Madame Reveille war ein Steinbau mittlerer Größe und im Unterschied zu vielen anderen Gebäuden in der Stadt bereits fertig gestellt. Raskin trat breitbeinig an die Tür und schlug den von einem bronzenen Löwenmaul gehaltenen Klopfer an. Sofort sah ein groß gewachsener Mann mittleren Alters in einer farbenprächtigen Phantasieuniform hinaus. Angesichts der fröhlichen Horde Betrunkener schien er die Tür wieder schließen zu wollen, doch ein Blick in die Gesichter der Offiziere warnte ihn davor, sich den Zorn der Männer zuzuziehen. Daher trat er mit einer tiefen Verbeugung beiseite. »Willkommen, Eure Exzellenzen!«
Raskin winkte seinen Kameraden lachend, ihm zu folgen. Als Schirin hinter Sergej in den durch viele Kerzen erhellten Flur trat, glaubte sie sich in eine andere Welt versetzt. Sie hatte schon einige russische Gebäude von innen gesehen wie das Palais Menschikow, Apraxins Palast und das Heim von Stepan Raskin. Alle diese Häuser waren prunkvoller eingerichtet als dieses hier, aber sie wirkten nicht so harmonisch, ja, geradezu märchenhaft verspielt. Farben und Figurenschmuck verschmolzen zu einer Einheit, die wie natürlich gewachsen erschien. Hier hingen keine Bilder mit Schlachten oder Jagdszenen an den Wänden, sondern Darstellungen hübscher, sehr spärlich bekleideter oder gar nackter Frauen. Den Statuen in den Nischen fehlten die Blätter, die in anderenHäusern jene Stellen zwischen den Schenkeln verdeckten, und keins der dargestellten Mädchen verbarg ihren Busen mit dem Arm oder den Händen.
Raskin führte die Gruppe zwischen zwei lebensgroßen Statuen üppiger, unbekleideter Frauen hindurch, die Lorbeerkränze über die Eintretenden hielten, in einen Saal mit rot tapezierten Wänden und zierlichen Möbeln. Auf kunstvoll gedrechselten Kirschholzstühlen saßen mehrere hohe Offiziere und einige prunkvoll gekleidete Zivilisten, die ihrer Tracht und den Gesichtern nach Ausländer zu sein schienen, und zu jedem von ihnen hatten sich eine oder mehrere wohlgestaltete junge Frauen in durchscheinenden Kleidern gesellt, deren Dekolletés so weit ausgeschnitten waren, dass Schirin ihre rosa gefärbten Warzenhöfe und bei zweien sogar die keck aufgerichteten Brustwarzen erkennen konnte.
Eine weitaus schicklicher gekleidete Frau mittleren Alters mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und blassen, durchdringenden Augen kam ihnen entgegen. Raskin salutierte lässig und deutete dann eine Verbeugung an. »Einen schönen guten Abend, Madame. Meine Freunde und ich wünschen zu feiern.«
Madame Reveille deutete auf eine Anrichte, auf der etliche Flaschen mit verschiedenen Weinen, Wodka und anderen geistigen Getränken bereitstanden, und dann auf die kichernden Mädchen. »In meinem Etablissement ist alles zu haben, was ein Kavalier sich wünscht, doch es hat seinen Preis.«
Stepan Raskin grinste breit und drückte ihr eine gefüllte Börse in
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