Die Tatarin
kam es bei Fehden in der Steppe vor, dass die Frauen der unterlegenen Stämme vergewaltigt und versklavt wurden, doch keine Tatarin würde sich so bereitwillig für wildfremde Männer hinlegen wie diese Frau. Schirin schüttelte sich bei dem Gedanken, so leben zu müssen wie Marion, und sie spürte den Wunsch, die Stätte so schnell wie möglich zu verlassen. Sie schlich zur Tür hinaus, erreichte den Empfangssaal, in dem zwei ihrer Begleiter vom Rausch überwältigt schliefen, und suchte unwillkürlich nach Sergej.
Da sie ihn nirgends fand, nahm sie an, dass er immer noch mit seiner fetten Hure herummachte. Mit zusammengepressten Lippen und ohne ein Wort des Abschieds suchte Schirin ihren Mantel, warf ihn über und trat auf die Straße. Die eisige Nacht klärte ihre von Rauch und Alkoholdunst beeinträchtigten Sinne, und trotz der beißenden Kälte genoss sie den Spaziergang zu ihrem Quartier. Als sie in dem düsteren, durchdringend nach Pferd riechenden Stall stand, fühlte sie sich wohler als in den Parfümdüften des hell erleuchteten Bordells.
Nach diesem Erlebnis hätte sie sich am liebsten in ihren Decken verkrochen, doch es wartete schon jemand auf Bahadur. Zum ersten Mal seit Wochen war Ostap wieder zu Besuch gekommen und offensichtlich leicht beleidigt, weil er seinen Freund nicht vorgefunden hatte. Schirin konnte ihm ansehen, dass er nur geblieben war,weil Wanja freigebiger aus der Wodkaflasche nachschenkte als seine Vorgesetzten auf der Alexej Romanow, denn er schwankte bereits bedenklich, als er auf sie zutrat und sie begrüßte. Wie viele Betrunkene war er mehr darauf erpicht, seine eigene Stimme zu vernehmen, als anderen Leuten zuzuhören, und so berichtete er zum zweiten Mal an diesem Abend ausführlich von seinen Erlebnissen auf der Fregatte. Dabei tat er so, als wäre er ein erfahrener Seemann, der auf allen Meeren zu Hause war, obwohl die immer mehr vereisende Ostsee das Auslaufen der Flotte verhinderte und die Alexej Romanow sich während seiner Zeit an Bord nur ein paar Seemeilen von ihrem Liegeplatz entfernt hatte.
Ostap verwendete viele neue, Schirin unbekannte Begriffe und berichtete von den Freunden, die er auf dem Schiff gefunden hatte. Obwohl er sich bemühte, freundlich zu sein, spürte Schirin, dass ihre alte Verbundenheit geschwunden war. Der Junge hatte sich rasch an sein neues Leben gewöhnt und die Vergangenheit wie einen alten, zerrissenen Kaftan abgestreift. Aus einem gewissen Ärger heraus erinnerte sie ihn an sein früheres Heimweh und sein Widerstreben, von Karasuk westwärts zu reiten.
Ostap winkte lachend ab. »Das ist vorbei! Zu Hause war ich nur einer von vielen Söhnen meines Vaters und wäre gewiss nicht sein Nachfolger als Stammesoberhaupt geworden, doch hier in Russland kann ich ein großer Mann werden. Mein vorgesetzter Offizier ist sehr zufrieden mit mir und will mich dem Kapitän bald als Fähnrich vorschlagen. Damit könnte ich die erste Stufe zur Offizierslaufbahn erklimmen und es bis zum Kapitän und vielleicht sogar zum Admiral bringen. Weißt du, Bahadur, das Meer ist der Steppe recht ähnlich. Es ist gleichermaßen endlos und gefährlich, und nur die besten Männer setzen sich durch. Zu jenen werde ich gehören!«
»Ich wünsche es dir!«, antwortete Schirin ehrlich und dachte traurig, dass sie gerade einen Freund verloren hatte.
Ostaps Gedanken galten nur noch der See, und als er Bahadur undWanja als simple Landratten bezeichnete, war das nicht nur als Scherz gemeint. So war Schirin schließlich erleichtert, als er vom Wodka überwältigt auf einer Strohschütte einschlief, denn nun konnte sie endlich selbst an Schlaf denken. Als sie ihr Obergewand ablegen wollte, fiel ihr auf, dass Sergej noch nicht zurückgekehrt war, und in einem weiteren Anfall von Eifersucht stellte sie sich genussvoll vor, er läge draußen im Schnee und würde in der eisigen Nacht erfrieren. Sofort schalt sie sich eine Närrin, denn sie hatte keinen Grund, ihn zu verdammen. Auch wenn er zu fetten Huren ins Bett kroch, so hatte er ihr doch das Leben gerettet.
Sie griff nach dem hässlichen, russischen Schaffellmantel, der zwar warm war, seinen Träger aber wie einen räudigen Bären aussehen ließ. »Ich gehe noch einmal hinaus und schaue, ob ich den Hauptmann finde. So betrunken, wie er schon war, könnte er sich bei dieser Kälte den Tod holen.«
Wanja spürte eine gewisse Verärgerung in Bahadurs Stimme und fragte sich, was zwischen den beiden wohl vorgefallen sein mochte. Da
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