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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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anflehen, dass keinSchwede nahe genug an ihn herankommt, um seine kostbare Haut ritzen zu können.«
    In seinen Worten schwang die abgrundtiefe Verachtung für einen Thronfolger mit, der trotz der prekären Lage, in der das Land sich befand, keinerlei Kampfgeist oder Interesse am Militär zeigte, sondern sich mit Popen und Mönchen umgab.
    »Alexej Petrowitsch mag zwar vom Zaren gezeugt worden sein, doch er ist der Sohn der Jewdokija Lopuchina.« Semjon Tirenko fällte mit diesen Worten ein hartes Urteil über den Zarewitsch, doch niemand widersprach ihm, und allen war es, als läge ein kalter Schatten über der Zukunft Russlands.
    Raskin schlug auf den Tisch, als wolle er mit dem Lärm die Düsternis aus den Köpfen seiner Kameraden vertreiben. »Lassen wir uns von so einem Mann etwa die Laune verderben? Noch ist er nicht Zar! Also füllt die Gläser, trinkt auf Pjotr Alexejewitsch, und lasst uns unser Beisammensein feiern.«
    Die anderen lachten mehr oder weniger gezwungen, aber einige Runden Wodka schwemmten die Beklemmung hinweg, und schon bald herrschte eine ausgelassene Fröhlichkeit im Saal. Tirenko ließ seine Balalaika holen und begann das Instrument zu stimmen. »Was für ein Lied wollt ihr hören, Freunde, ein trauriges oder ein lustiges?«
    »Natürlich ein lustiges«, scholl es zurück.
    »Nein, ein trauriges«, forderte ein anderer lautstark.
    »Dann spiele ich eben beides!« Tirenko schlug die ersten Akkorde und begann mit schmelzender Stimme zu singen. Das Lied traf Schirin wie ein Schlag. Sie hatte es früher oft von ihrer Mutter gehört und es als Kind mit ihr zusammen gesungen. Ohne dass es ihr bewusst wurde, stimmte sie in Tirenkos Gesang ein. Erst als der letzte Ton der Balalaika verklungen war, bemerkte sie die verwunderten Blicke der Anwesenden und den fragenden Ausdruck auf ihren Gesichtern.
    »Bei der Heiligen Jungfrau von Kasan, ich habe dieses Lied nie inniger gehört als jetzt!«, platzte Raskin heraus.
    »Ich auch nicht!«, stimmte Sergej ihm zu. Bevor er mehr sagen konnte, packte Raskin den vermeintlichen Tatarenjüngling bei den Schultern, riss ihn an sich und drückte ihm zwei wodkaschwangere Küsse auf die Wangen.
    »Du bist wahrlich ein Wunder, Söhnchen! Die Franzosen behaupten, wenn man an einem Russen kratzt, kommt der Tatar hervor, doch bei dir ist es genau umgekehrt. Wenn man deine tatarische Haut abschabt, kommt ein prachtvoller Russe zum Vorschein.«
    »Kennst du noch andere Lieder, Bahadur?«, fragte Tirenko erwartungsvoll.
    Schirin entwand sich Stepan Raskins Griff und hob zweifelnd die Arme. »Ein paar noch. Eines handelt von weißen Birken.« Tirenko nickte eifrig, schlug die ersten Takte an, und sein kraftvoller Tenor mischte sich mit Schirins heller, aber knabenhaft genug klingender Stimme. Das Lied füllte den Saal und schlug die Anwesenden so in den Bann, dass sie, als es verklungen war, noch für einige Augenblicke den Atem anhielten.
    »Wundervoll!«, stieß Raskin schließlich hervor, bedachte den jungen Sänger mit zwei weiteren feuchten Wangenküssen und schob ihn dann in Sergejs Arme.
    »Du steckst voller Überraschungen, kleiner Tatar!« Auch Sergej küsste Bahadur auf die Wangen, musste aber an sich halten und sein Verlangen niederkämpfen, seinen Mund auf den des Jünglings zu pressen. Was ist denn los mit mir?, fragte er sich erschreckt. Sollte Kirilin Recht haben und er mehr an Bahadur finden, als es die Gebote der heiligen Kirche erlaubten? Beinahe schroff stieß er den Jungen von sich und umarmte mit einem falschen Lachen den Balalaikaspieler und gab ihm einen Schmatz, wie es der Sitte entsprach. Doch heimlich beobachtete er sich selbst. Bei Tirenko hatte er nicht das absurde Gefühl, eine Frau in den Armen zu halten.
    »Noch ein Lied!«, bettelten die anderen.
    Schirin durchforstete ihr Gedächtnis und fand es so leer wie eine Wodkaflasche, die zu lange in Wanjas Nähe gestanden hatte. »Mirfällt nur noch ein Lied ein, aber das dürfte euch nicht gefallen. Es handelt nämlich von einem Krieger, der sich gegen den Zaren erhoben hat und erst nach langem, blutigem Krieg bezwungen werden konnte.«
    Einige Köpfe ruckten neugierig hoch, und Stepan Raskin fand sich plötzlich im Zentrum der Blicke wieder. »Ich glaube, das kennen wir!«, rief einer seiner Freunde lachend. »Wir haben es zu Ehren unseres lieben Stepan oft genug gesungen. Spiel auf, Semjon Markeljewitsch! Wahrscheinlich ist es das, was Bahadur meint.«
    Tirenko ließ sich nicht lange bitten.

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