Die Tatarin
seiner alten Uniform für ein Relikt aus einer versunkenen Zeit halten. In gewisser Weise war er das auch, denn er hatte seinen Dienst bereits unter dem Zaren Fjodor Alexejewitsch angetreten, dem Bruder und Vorgänger des jetzigen Zaren. Damals hatte er sich gewünscht, bei den Strelitzen aufgenommen zu werden, doch dafür hatten ihm die Beziehungen gefehlt, und so war er bei den Grenztruppen gelandet. Heute war er froh, dass es so gekommen war, denn später hatten die Strelitzen gegen den neuenZaren rebelliert und waren von dessen Zorn hinweggefegt worden. Wenn er den Gerüchten, die in Sibirien umgingen, Glauben schenken konnte, hatte Pjotr Alexejewitsch zweitausend von ihnen mit eigener Hand geköpft und die übrigen seinen Henkern übergeben. So gesehen war es besser für ihn, nach Sibirien versetzt und Oberst mit hundertsechzig Rubel Jahressold geworden zu sein. Hier hatte er zwar keine Reichtümer erwerben können, dafür aber mit Ausnahme der gelegentlichen Aufstände ein gutes Leben geführt.
»Auf den Zaren und auf Väterchen Boris Michailowitsch, der uns zum Sieg geführt hat!« Sergej Tarlows Trinkspruch riss Mendartschuk aus seinen Gedanken. Er nickte dem jungen Offizier wohlwollend zu und ergriff sein Wodkaglas, das sein Diener bereits wieder gefüllt hatte.
»Auf den Zaren und unsere glorreiche Armee!«
»Die wenig glorreich vor den Schweden davonläuft!«, warf Kirilin spöttisch ein.
Hauptmann Igor Nikititsch Schobrin, der einzige Sibirier in der Runde und Mendartschuks Stellvertreter, wandte sich neugierig an Sergej. »Sind diese Schweden denn wirklich so schrecklich, wie man sich erzählt? Wie ich hörte, hast du ihnen damals an der Narwa gegenübergestanden.«
Sergej machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen bekommen, denn er wusste nicht so recht, was er Schobrin antworten sollte. »Nun ja, sie waren damals ziemlich Furcht einflößend, als sie mitten im dichten Schneetreiben unser Lager überfielen. Sie schossen doppelt so schnell wie unsere Leute und trafen mehr als doppelt so gut. Doch das ist schon über sieben Jahre her. Jetzt sind unsere Truppen besser ausgebildet und bewaffnet, und die Schweden haben ihre Verluste in letzter Zeit nur mit zum Dienst gepressten Sachsen und Polen auffüllen können. Diese Kerle aber taugen in der Schlacht mit Sicherheit weniger als die Schweden selbst. Ich sage euch, wenn es hart auf hart kommt, werden wir sie schlagen.«
Kirilin lachte spöttisch auf. »Wo denn? Vor den Toren Moskausoder vielleicht gar hier in Sibirien, wenn sie so weit hinter uns herrennen?«
Einige böse Blicke streiften ihn, doch niemand gönnte ihm eine Antwort.
Mendartschuk beugte sich nach vorne und maß Sergej mit erstauntem Blick. »Du hast an der Schlacht bei Narwa teilgenommen? Damals musst du doch noch ein halbes Kind gewesen sein.«
»Ich war gerade siebzehn und Fähnrich bei den Rijasanski-Dragonern.« Sergej hätte ihm einiges mehr darüber berichten können, zum Beispiel, dass der Zar ihn persönlich wegen Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet hatte. Das aber wäre ihm wie Aufschneiderei vorgekommen, verdankte er den Orden doch allein der Tatsache, dass er im Gegensatz zu anderen Fahnenträgern vor lauter Angst vergessen hatte, das ihm anvertraute Banner auf der Flucht wegzuwerfen. Auf diese Weise hatte er eine der wenigen Fahnen gerettet, die dem russischen Heer nach der Schlacht geblieben waren.
Das Eintreten des wachhabenden Unteroffiziers unterbrach das Gespräch. Der Mann salutierte vor dem Oberst und wandte sich dann an Sergej. »Verzeiht, Väterchen Hauptmann, aber Euer Wachtmeister Iwan Dobrowitsch ist mit der tatarischen Geisel eingetroffen.«
Der Oberst bedachte Sergej mit einem anerkennenden Blick. »Ausgezeichnete Arbeit! Lasst die Geisel hereinbringen.« Insgeheim atmete er auf, denn mit der Übergabe von Möngürs Sohn konnte er den Schlusspunkt unter den Aufstand setzen und seinen vorgesetzten Stellen in Moskau mitteilen, dass ein weiterer Tatarenstamm der Herrschaft des Zaren unterworfen worden war.
Der Wachhabende ging mit so beschwingten Schritten hinaus, als amüsiere er sich über etwas, und kurz darauf trat Wanja durch die Tür und blieb mit verhaltenem Lächeln vor Sergej stehen. »Befehl ausgeführt, Sergej Wassiljewitsch! Hier ist der Sohn des Khans.«
Im selben Moment trat Schirin ein. Die Offiziere hielten die Luft an und starrten das Wesen an, das sie für einen jungen Mann haltenmussten und in dem Europa und Asien in völliger
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