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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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und herrschte den Popen an. »Was stehst du hier noch herum? Sorge dafür, dass die Leute ihre Häuser räumen und verschwinden. Oder willst du, dass meine Steppenreiter euch nachhelfen? Wir haben noch viel zu tun und können nicht ewig warten.«
    Schirin nahm an, dass die Bauern protestieren und sich zur Wehr setzen würden, doch zu ihrer Verwunderung schlurften die Männer mit hängenden Schultern zu ihren Hütten und riefen ihre Weiber und Kinder heraus. Verhärmt aussehende Frauen in langen, weiten Kleidern aus selbst gewebten Stoffen strömten weinend ins Freie und rangen die abgearbeiteten Hände. Doch auch sie wagten keinWort des Widerspruchs, sondern hörten sich an, was man den Männern befohlen hatte. Dann kehrten sie mit müden Bewegungen in ihre Häuser zurück und packten zusammen, was sie tragen konnten, während die Männer und die älteren Knaben das wenige Vieh aus den Ställen trieben. Primitive Karren wurden mit Vorräten und Gerätschaften beladen, bis sie beinahe zusammenbrachen, und die Kühe und ein paar magere Gäule davor gespannt. Selbst kleine Kinder schwankten unter den Lasten, die ihnen aufgeladen worden waren, doch die Menschen klagten nicht und sagten auch kein böses Wort über den Zaren, sondern zogen in einer langen Schlange davon. Der Pope und ein paar Männer blieben zurück und zündeten die Häuser und Schuppen an. Zuletzt trat der Pope in das kleine, hölzerne Kirchlein, holte eine Ikone heraus, küsste sie ehrfürchtig und schlug sie in ein Tuch ein. Dann nahm er die Fackel und warf sie in das Gotteshaus. Das harzgetränkte Kiefernholz der Kirchenbänke entflammte sofort, und kurz darauf brannte auch die Kirche lichterloh.
    Schirin spreizte in einer abwehrenden Geste die Hände. »Gibt es gar keine Möglichkeit, diesen Leuten zu helfen? Sie mussten viel zu viel zurücklassen und werden mit dem wenigen, das sie mitnehmen konnten, nicht durch den nächsten Winter kommen.«
    Sergej hatte sich den Krieg gegen die Schweden anders vorgestellt und reagierte so gereizt, wie er sich fühlte. »Dazu bleibt uns keine Zeit, denn es warten noch eine Reihe anderer Dörfer auf uns. Da wir die Armee Carls XII. nicht mit Waffengewalt aufhalten können, müssen wir ihr den Vormarsch so schwer wie möglich machen. Wenn sie auf ihrem Weg weder Nahrung noch Viehfutter vorfinden, werden sie irgendwann aufgeben und sich zurückziehen müssen.«
    Schirin war fassungslos. »Was seid ihr Russen nur für Leute? Ihr wartet nicht darauf, dass der Feind euer Land verwüstet, sondern macht es lieber selbst. Bei Allah, ihr seid erbärmliche, verachtenswerte Geschöpfe!«
    Diese Beleidigung war zu viel. Noch bevor Sergej wusste, was er tat, schlug seine Hand mit voller Kraft zu.
    Schirins Wange brannte wie Feuer, und von ihrer Oberlippe tropfte Blut. Sie tastete mit dem Finger nach der schmerzenden Stelle und starrte verdattert auf das rote Rinnsal, das über ihre Hand lief. Einen Herzschlag später fuhr sie wie von der Tarantel gestochen auf. »Russischer Hund, das hast du nicht umsonst getan!«
    Ihr Säbel flog aus der Scheide, doch bevor sie auf Sergej losgehen konnte, trat Kitzaq dazwischen, packte sie und wirbelte sie herum. »Nein, Bahadur! Sei doch kein Narr! Du kannst doch nicht die Waffe gegen deinen Anführer erheben.«
    Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Schirin auf ihren Stammesgenossen losgehen, doch dann ließ sie den Säbel fallen und kämpfte verzweifelt gegen die Tränen an, die ihr wie Perlen über die Wangen liefen.
    »Es ist schon gut, Kitzaq!«, sagte sie zu ihm. Der Blick, mit dem sie Sergej dabei maß, verriet, dass sie diesen Schlag weder zu vergessen noch zu vergeben bereit war.
    Sergej wand sich innerlich. Bahadur war der letzte Mensch gewesen, dem er hatte wehtun wollen, doch seine Wut und seine Enttäuschung hatten sich einfach ein Opfer gesucht. Für Reue war es zu spät, denn sein Fähnrich sah nicht so aus, als würde er ihm so schnell verzeihen, und die Kameradschaft, die einmal zwischen ihnen geherrscht hatte, war wohl bis auf die Wurzeln zerstört. Dennoch wollte er sich bei Bahadur entschuldigen und ihm versichern, dass er es nicht so gemeint hatte, sondern selbst nur allzu wütend über diese Befehle war. Doch als er auf den Jungen zutrat, wandte dieser sich um, stieg steifbeinig auf seinen Hengst und lenkte ihn zur Seite.
    Kitzaq bückte sich, hob den Ehrensäbel auf, für den sein Schwager die Hälfte seiner Pferde und noch mehr aufgegeben hätte, und folgte

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