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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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haben.«
    Jekaterina schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin, Mütterchen? Der Zar ist schon wieder unterwegs, und wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren. Er hat uns nicht gesagt, wo er hinwill, und selbst wenn er es getan hätte, würde es uns nichts nützen, denn er könnte schon an der nächsten Wegkreuzung seine Meinung ändern und woanders hinfahren. Stelle dir vor, was passiert, wenn wir ihn verlieren und geradewegs auf diese schrecklichen Schweden zufahren!«
    »Aber …«, begann Marfa.
    »Kein Aber!« Jekaterina blieb freundlich, aber ein warnender Unterton war nicht mehr zu überhören. »Wir wissen nun, wo der Junge zu finden ist, und ich sorge schon dafür, dass du ihn später einmal zu dir holen kannst. Jetzt müssen wir dem Zaren folgen.«
    Marfa senkte betrübt den Kopf, raffte sich aber rasch wieder auf und sah zum Kutschenfenster hinaus. Da der Wagen bereits rollte, blieb der junge Mann schnell hinter ihr zurück. Sie rief ihn an, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, und winkte ihm zu, aber der Junge schien durch sie hindurchzusehen und ihre Geste nicht auf sich zu beziehen.
    Schirin war zu wütend und zu empört, um auf die Frau zu achten, die sie aus der Kutsche heraus anstarrte, denn für sie hatte der Zar eben den letzten Funken ihrer Achtung verloren. Nur ein Mann ohne Gewissen konnte sein eigenes Volk in die Wälder jagen und zu einem langsamen Tod durch Kälte und Hunger verurteilen. Noch schlimmer war in ihren Augen jedoch die Schändung des Wassers, des kostbarsten Geschenks, das Allah den Menschen gegeben hatte. Nicht weit von ihr warfen einige Dragoner Mist und zwei tote Schweine in einen Brunnen. Schirin musste sich an dem Ast festhalten,der über ihren Kopf hinwegragte, um Goldfell nicht anzutreiben und die Männer, die das taten, über den Haufen zu reiten. Ihre Verachtung für die Russen stieg im selben Maß, in dem das Dorf niederbrannte und das Land zur Wüste gemacht wurde.
    Es war nicht das letzte Dorf an diesem Tag, das von Sergejs Reiterschar heimgesucht wurde, und jedes erlitt das gleiche Schicksal. Die Häuser wurden angezündet, die Felder verwüstet und die Brunnen unbrauchbar gemacht, während die Bewohner sich mit dem wenigen, was sie mitnehmen konnten, in die Wälder aufmachten, um sich die nächsten Wochen oder gar Monate dort vor den Schweden zu verstecken, die vielleicht gar nicht kommen mochten. Schirin beteiligte sich an keiner dieser ihr so grausam erscheinenden Taten und vergaß dabei ganz, dass sie als Bahadur angesehen werden wollte, als harter Krieger, der es den Kalmücken gleichtun und über die Vernichtung russischer Dörfer hätte jubeln sollen.
    Als Sergejs Reiter am Abend den Ort erreichten, an dem sie lagern wollten, fanden sie dort einen Trupp russischer Soldaten vor, der das Dorf bereits zerstört und die Bauern vertrieben hatte. Den Uniformen zufolge handelte es sich um Infanterie, die jedoch beritten gemacht worden war, damit sie ebenso wie Sergejs Steppenteufel ein Dorf nach dem anderen aufsuchen und evakuieren konnten. Während Schirin dieser Einheit keinen zweiten Blick schenkte, ritt Sergej zu dem hoch auflodernden Lagerfeuer und entdeckte, dass der kommandierende Offizier ausgerechnet Kirilin war. Er trug immer noch die Abzeichen eines Hauptmanns, aber er steckte nicht mehr in der Uniform der Preobraschensker Garde, sondern im schlichteren Tannengrün des Simbirski-Regiments.
    Auch Kirilin war nicht gerade erfreut, Sergej zu sehen. Er bleckte die Zähne und spuckte dann ins Feuer. »Sergej Wassiljewitsch Tarlow! Uns ist wohl vom Teufel bestimmt, dass wir uns andauernd über die Füße laufen.«
    »Eher vom Zaren, denn der gibt in Russland die Befehle«, spottete Sergej.
    Kirilin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Tatsächlich? Wie lange denn noch? In Grodno ist er vor den Schweden davongerannt, bei Holovczyn hat er kräftig Schläge bekommen, und jetzt sieht er seine Hoffnung nur noch darin, Russland in eine Wüste zu verwandeln, die zu erobern sich für die Schweden nicht mehr lohnt.« Seine Stimme klang giftig, und es schien ihn auch nicht mehr zu interessieren, ob jemand seine Worte hören und weitertragen konnte.
    Sergej schüttelte über so viel Unvorsichtigkeit innerlich den Kopf. »Wie kommt es, dass du deinen schönen Posten als Leibwächter des Zarewitschs aufgegeben und dich der kämpfenden Truppe angeschlossen hast?«
    »Nach der Schlacht von Holovczyn hat der Zar Verstärkung angefordert, und deswegen bin ich mit meiner

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