Die Tatarin
er das Gefühl, als würden Moschkas Hufe nicht nur die Erde, sondern auch seinen Kopf treffen. Verglichen mit Wanja ging es ihm jedoch noch gut, denn der Wachtmeister hing wie ein nasser Sack auf seinem Burok und wimmerte leise vor sich hin.
Auch Raskin und Tirenko schwankten so bedenklich im Sattel, dass die ihnen unterstellten Dragoner Sergej scheinbar ernsthaft fragten, ob sie ihre Leutnants nicht besser auf den Pferden festbinden sollten. Raskin hörte das zwar, aber obwohl er sonst nie um eine Antwort verlegen war, begnügte er sich mit einem mehr elenden als wütenden Blick und klammerte sich stöhnend am Sattelknauf fest. Seiner Miene nach zu urteilen schien er nicht zu wissen, wen er stärker zum Teufel wünschen sollte, seine Übelkeit, seine Kopfschmerzen oder die aufmüpfigen Dragoner.
Schirin hingegen wirkte so frisch und munter, wie man es nach einem halbwegs ausreichenden Schlaf nur sein konnte. Da Sergejs Reaktionen nicht viel besser waren als die von Raskin, stellte sie den Reiterzug nach der Überquerung der Newa in Marschordnung auf und gab das Tempo vor.
Kang, Ischmet und die beiden Dragonerunteroffiziere nahmen die Befehle des Fähnrichs ohne Widerspruch entgegen und unterstützten ihn nach Kräften. Kitzaq aber war an diesem Morgen ebenso wenig zu gebrauchen wie die Offiziere, obwohl er am Abend nicht betrunken gewirkt hatte, und quittierte die Anweisungen mit einem unwilligen Brummen.
Sie ärgerte sich über ihn und hätte ihn am liebsten scharf zurechtgewiesen,denn sie konnte ja nicht ahnen, dass ihr Stammesgenosse sich völlig verausgabt hatte und erst im Morgengrauen der ihm alles abfordernden Russin entkommen war. Doch sie hatte wenig Lust, sich mit ihm zu zanken. Da sie die Befehle nicht kannte, die Sergej von Fürst Apraxin erhalten hatte, ritt sie an der Spitze des Zuges nach Süden, denn in dieser Richtung musste sich das Heer des Zaren befinden, oder zumindest das, was nach der Schlacht von Holovczyn davon übrig geblieben war – und auch die siegreichen Schweden. Die Tatsache, dass es nur eine einzige, halbwegs ausgebaute Straße gab, die von Sankt Petersburg ins zentrale Russland führte, erleichterte ihr die Entscheidung. Viele Werst später, jenseits der unwegsamsten Sümpfe, verzweigte der Weg sich, aber bis dorthin würde Sergej die Folgen seines Rausches überwunden haben und fähig sein, die notwendigen Entscheidungen selbst zu treffen. Schirin warf ihrem leidenden Hauptmann einen verächtlichen Blick zu und fragte ihn, wo sie das Nachtlager aufschlagen sollten.
Sergej kniff die Augen zusammen, um die Sonne auszuschließen, die mit Dolchklingen in seinen Schädel stach, und befeuchtete seine trockene Zunge. »Wir lagern erst, wenn die Sonne so tief steht, bis sie fast den Horizont berührt.«
»Das ist arg spät. Ich weiß nicht, ob ich die Leute so lange bei Laune halten kann.«
»Du sollst sie nicht bei Laune halten, sondern sie dazu bringen, dir zu gehorchen. Oder bist du dazu nicht fähig?« Schirin drehte sich beleidigt zu den Reitern herum und ließ ihren Ärger an ihnen aus. »Aufschließen! Reitet gefälligst schneller. Oder wollt ihr hier warten, bis der Schwedenkönig euch entgegenkommt?«
Die Tataren lachten, während man den Dragonern ansehen konnte, dass sie in ihrem ganzen Leben keinem Schweden zu begegnen hofften. Da Schirin dafür gesorgt hatte, dass Ischmets Baschkiren die Nachhut übernahmen, blieb den russischen Soldaten nichts anderes übrig, als das Tempo der Steppenreiter mitzuhalten.
Gegen Mittag befahl Schirin den Männern, abzusitzen und die Pferdezu führen, damit die Tiere sich ein wenig erholen konnten, und beim Gehen zu Mittag zu essen. Die Männer nahmen den Befehl so stoisch entgegen wie die Rationen, die nun verteilt wurden. Wanja, Sergej und die beiden Leutnants lehnten das ihnen angebotene Brot und den Schinken ab, Kitzaq und die anderen Steppenreiter aber fielen wie hungrige Wölfe darüber her und scherten sich nicht darum, dass das Fleisch nicht von einem Schaf oder Rind stammte, sondern von einem grunzenden Schwein. Schirins Gewissen bäumte sich auf, aber da es nichts anderes gab und sie bei Kräften bleiben musste, biss sie nach einigem Zögern in das stark gesalzene Rauchfleisch und versuchte dann ohne Erfolg, den Nachgeschmack mit Wasser fortzuspülen. Zu ihrem Entsetzen empfand sie nach dieser Mahlzeit zum ersten Mal das Verlangen nach einem Glas Wodka. Sie unterdrückte diesen Wunsch jedoch und bezahlte ihre Standhaftigkeit
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