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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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entschlossen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen!«

SECHSTER TEIL

Die Deserteurin

I.
    Es war die ideale Nacht für eine Flucht. Der Vollmond stand hoch am Himmel, aber schnell ziehende Wolken verdeckten ihn immer wieder, so dass die Landschaft in wechselnde Helligkeit getaucht wurde, die alle Konturen nach wenigen Pferdelängen auflöste. Die meisten Flüchtlinge waren guten Mutes, denn sie kamen schnell vorwärts und glaubten, vor Streifscharen und Verfolgern sicher zu sein. Mit jeder Stunde, die sie ritten, hob sich ihre Stimmung, während Schirins Gemüt sich im gleichen Maße verdüsterte.
    Sie bedauerte bereits jetzt, so kopflos reagiert zu haben und auf Ilgurs Vorschlag eingegangen zu sein. Hätte sie vor der Flucht erfahren, dass nicht der Sohn des Emirs von Ajsary der Anführer der Deserteure war, sondern Oleg Fjodorowitsch Kirilin, der mit seiner gesamten Kompanie zu den Schweden überlaufen wollte, wäre sie vielleicht früh genug zur Vernunft gekommen. Aber ihre Wut auf Sergej war zu jenem Zeitpunkt noch zu groß und ihr Stolz zu verletzt gewesen, als dass sie nachgedacht hätte. Jetzt war es zu spät, umzukehren, denn Kirilin hatte gedroht, jeden zu töten, der Anstalten machte, die Gruppe zu verlassen, und auch diejenigen, die sich weigerten, Abtrünnige umzubringen. So ritt sie wie gewohnt hinter den führenden Offizieren her und konnte den verächtlichen Bemerkungen entnehmen, die Kirilin von Zeit zu Zeit mit seinem ebenso unsympathischen wie redseligen Freund Schischkin wechselte, dass Ilgur und die restlichen sibirischen Geiseln ihnen nur dazu dienen sollten, dem schwedischen König Carl XII. zu beweisen, wie weit der Einfluss der Gegner des Zaren in Russland reichte.
    Die Anwesenheit von Kirilin und Schischkin hätte Schirin vielleicht weniger gestört, wenn sie unter den anderen Geiseln Kameraden oder gar Freunde besessen hätte, aber die Männer, in deren Gesellschaftsie sich nun freiwillig befand, hatten sie auf der Reise von Karasuk nach Moskau und weiter nach Sankt Petersburg als Außenseiter behandelt. In der Zwischenzeit hatte Ilgur sich so viel Respekt bei ihnen verschafft, dass sie ihn mit einer Hochachtung behandelten, als wäre er ein gelehrter Mullah, und ihm scheinbar blindlings folgten.
    »Ich laufe mit Leuten, die mir in tiefster Seele zuwider sind, vor jenen Menschen davon, die ich mag«, murmelte sie nur für sich hörbar. Je länger sie der mit vielerlei Erwartungen gespickten Unterhaltung der beiden vor ihr reitenden Verräter zuhörte, umso stärker wich ihr glühender Zorn auf Sergej tiefer Verzweiflung, und ihre Verachtung für den Zaren und das russische Volk schmolz dahin. Jetzt, wo es zu spät war, begriff sie, warum Pjotr Alexejewitsch bereit war, einen Teil seines Landes zu opfern, um das Ganze zu erhalten, und warum die armen Muschiks ihn dabei so bereitwillig unterstützten.
    Sie war diejenige gewesen, die Unrecht gehabt hatte, und anstatt Sergej bei seiner Aufgabe, die ihm gewiss keine Freude bereitet hatte, beizustehen und Verständnis für ihn zu zeigen, hatte sie ihn beleidigt und bis aufs Blut gereizt. Nun war ihr klar, dass er einfach nur die Geduld mit ihr verloren hatte, und wünschte sich, sie könnte zu ihm gehen und ihm sagen, wie Leid ihr das alles tat. Stattdessen ritt sie in einer langen Doppelreihe von Soldaten, die sich zusammengefunden hatten, um sich dem Dienst des Zaren zu entziehen und ihn zu verraten, in Richtung des feindlichen Lagers. Jeder der Männer um sie herum schien zu hoffen, ein großer Mann zu werden, wenn Pjotr Alexejewitsch erst einmal gestürzt worden war und sein Sohn als Zar Alexej II. den Thron bestiegen hatte.
    Schirin erinnerte sich an den kraft- und saftlosen Zarewitsch und schüttelte sich. Der Sohn des Zaren würde kein mächtiger Anführer werden, wie ein großes Reich ihn brauchte, sondern ein willenloses Werkzeug in den Händen seiner Berater bleiben. In dem Augenblick, in dem er Zar wurde, hatte sein Beichtvater, der Protopope Jakub Ignatjew, sein Ziel erreicht, denn dann würde er der wahreHerr über Russland sein. Schirin wusste zwar nicht, was der Titel des Mannes bedeutete, aber Ignatjew war gewiss jetzt schon einer der Großen in der Hierarchie der russischen Kirche und nicht mit den Dorfpopen zu vergleichen, die nicht besser lebten als die Bauern, über deren Seelen sie wachten. Unter der Herrschaft dieses Mannes, dachte Schirin, würden die Menschen ihres Stammes wohl nicht nur die räuberischen

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