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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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am Dnjepr gewartet, wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen, und er hätte sein Heer neu ausrüsten können. Die Ungeduld seines Königs und dessen Entschluss, weiter vorzurücken, war die Ursache dafür, dass Lewenhaupt kein einziges Haferkorn und keinen Schuss Pulver mitbrachte, dafür aber etliche tausend Soldaten, die die Zahl der hungrigen Mäuler im Heer noch vergrößerten.
    Für einen Augenblick wirkte der schwedische König wie zu einem Standbild erstarrt. Er sah an Lewenhaupt vorbei auf das zerschlagene Heer, wandte sich dann nach Osten, wo die Rauchsäulen brennender Dörfer aufstiegen, als wollten sie ihn verhöhnen, und rieb sich heftig über seine unrasierte Wange. Rings um ihn war es so still, dass das kratzende Geräusch bis zu Schirin drang und ihre Nerven schwingen ließ.
    Mit einem Mal machte Carl XII. eine wegwerfende Handbewegung und lachte auf. »Soll dieser Pitter sein eigenes Land doch umsonst verwüstet haben! Es ist viel zu spät im Jahr, um noch bis Moskau vorstoßen zu können. Meine Herren, wir wenden uns nach Süden, wo es Freunde gibt, die uns mit allem Notwendigen versorgen werden.«
    Schirin musste sich auf die Lippen beißen, um ihr Lachen herunterzuschlucken, so komisch wirkten die Gesichter der Offiziere um den König herum. Fassungslosere Mienen hatte sie noch nie gesehen. Lewenhaupt versuchte etwas zu sagen, doch ihm versagte die Stimme; Rehnskjöld stieß einen leisen Fluch aus, der dem Verlust des Nachschubtrosses galt, und Piper blickte zum Himmel, als hoffe er auf ein Zeichen Gottes. Keiner der Männer schien auch nur zu ahnen, was der König plante. Jene Soldaten, die ihm beinahe ein ganzes Jahrzehnt von Schlachtfeld zu Schlachtfeld gefolgt waren, atmeten hingegen auf. Die Nächte waren schon recht kalt, und vor ein paar Tagen hatte es sogar geschneit. Zwar war der Schnee inzwischen wieder geschmolzen, doch der tief hängende, bleigraue Himmel versprach nichts Gutes. Die Männer waren bereit, ihrem Königbis in die Hölle zu folgen, doch ein warmes Winterlager in einem befreundeten Land war ihnen lieber als ein Eismarsch auf Moskau. Lewenhaupts geschlagene Soldaten zogen nun ins Lager ein und erhielten ihre erste warme Mahlzeit seit Tagen. Schirin musterte die nicht enden wollende Reihe, die an ihr vorbeimarschierte, und bekam plötzlich Herzklopfen. Diese Männer kamen aus dem Baltikum, und es mochte gut sein, dass sich Soldaten und Offiziere unter ihnen befanden, die unter Lybecker gegen Sankt Petersburg marschiert waren. Wenn auch nur einer davon sie mit dem jungen Fähnrich in Verbindung brachte, der General Lybecker vom Angriff auf Sankt Petersburg abgehalten hatte, schwebte sie in tödlicher Gefahr. Vorsichtig zog sie sich zurück und setzte sich an einen Teich, der unweit des Lagers von einem kleinen Bach gespeist wurde. Trotz der vielen Soldaten, die hier fässerweise Wasser schöpften, war das von einem steinigen Ufer umgebene Gewässer beinahe kristallklar, und Schirin nahm ihr Spiegelbild so deutlich wahr, als stünde sie sich selbst gegenüber. Graue, sorgenvolle Augen blickten ihr entgegen, ihre Wangen waren schmaler als früher und die Gesichtszüge immer noch viel zu ebenmäßig für einen jungen Mann. Ihr Aussehen hatte sich verändert, seit sie das Ordu an der Burla verlassen hatte, und sie stellte verärgert fest, dass sie kaum noch einer Tatarin glich, sondern wie eine Russin aussah, die man in tatarische Kleidung gesteckt hatte. Ihre Ähnlichkeit mit der Freundin von Zar Peters Konkubine Jekaterina war nun so groß, dass man sie für eine jüngere Schwester oder Tochter dieser Marfa Alexejewna hätte halten können.
    Schirin seufzte und hieb dann in einem jähen Impuls mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche. Ihr Spiegelbild zerstob und ließ sie mit ihren Zweifeln und Ängsten allein zurück. Gedankenverloren tauchte sie die Hand in den kleinen Teich und spürte mit einem Mal, wie kalt das Wasser schon war. Sie schüttelte sich, sprang auf und machte sich auf den Weg ins Lager. Unterwegs sah sie, dass die Schweden jede Ordnung hatten fahren lassen und heiß über die Ankündigungihres Königs diskutierten. Niemand achtete auf die Umgebung, und so, wie die Posten ihre Pflicht versäumten, hätten die Russen bis auf wenige Schritte herankommen können, ohne bemerkt zu werden. Doch es erschien kein feindlicher Soldat, und Schirin wurde plötzlich klar, dass sich ihr gerade die erste Möglichkeit zur Flucht bot. Sie lief zu Goldfell und

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