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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Schüsse zu hören, doch sie verstummten, bevor die in Marsch gesetzten Verstärkungen Schirins Schätzung zufolge das Lager der Vorhut erreicht haben konnten. Einige Stunden später kehrte der König sichtlich enttäuscht zurück.
    »Die Russen haben wieder einmal das getan, was sie am besten können: Sie sind davongelaufen!«, rief er über das Lager hinweg und zog sich in sein Zelt zurück, um sein verspätetes Frühstück als Mittagessen einzunehmen. Einige Soldaten, die mit Carl XII. zurückgekommenwaren, berichteten ihren Kameraden Einzelheiten, die der Verachtung des Königs auf alles Russische Hohn sprachen. Fürst Michail Golizyns Truppen hatten Roos’ Lager im Morgengrauen angegriffen, den Schweden fühlbare Verluste beigebracht und sich in bester Ordnung wieder zurückgezogen.
    Schirin fragte sich, ob Sergej und Kitzaq wohl an dem Scharmützel beteiligt gewesen waren, und bedauerte mehr denn je, sich in ihrem Zorn Ilgur angeschlossen zu haben. Sie sehnte sich danach, mit ihren Freunden zu reden, in ihrem Kreis zu sitzen und dem Klang von Tirenkos Balalaika zu lauschen, und der Gedanke, dabei Sergejs Nähe spüren zu können, ließ sie am ganzen Körper zittern.
    »He, Bahadur! Freust du dich auch schon auf morgen? Da werden wir den Russen zeigen, was sie wert sind!« Ilgur kam grinsend auf Schirin zu und klopfte dabei auf seinen Säbel.
    Schirin schreckte aus ihren Gedanken hoch. »Wieso? Was ist los?«
    »Morgen früh werden wir zum Sturm antreten, denn König Carl will diesen Krieg endlich für sich entscheiden. Seine Vorhut späht bereits die Nachtlager der Russen aus. Morgen wird es keinen Zaren mehr geben!«
    Obwohl Ilgur den Sieg schon greifbar nahe sah, zweifelte Schirin daran, dass es so schnell zu der vom Schwedenkönig gewünschten Schlacht kam. Das schwedische Heer war riesig, und sein königlicher Feldherr hatte noch nie einen Kampf verloren. Pjotr Alexejewitsch wusste genau, dass nur ein Wunder diesen Feind aufhalten konnte, und würde auch diese Schlacht nicht annehmen. Sie verriet jedoch nichts von ihren Überlegungen, sondern zog ihren Säbel aus der Scheide und begann, seine Schneide mit einem kleinen Stein zu schleifen.
    Ilgur nickte anerkennend. »Deine Klinge dürstet wohl auch nach Russenblut?« Er schien vergessen zu haben, dass sein Freund Kirilin ein Russe war.
    »Sie dürstet nach dem Blut meiner Feinde«, entzog Schirin sich einer genauen Antwort. Sie war nicht weniger angespannt als Ilgur und fragte sich, was der kommende Tag wirklich bringen würde.

XI.
    Noch vor Tau und Tag machte sich bei den Schweden hektische Betriebsamkeit breit. Die Soldaten verschlangen ihr Frühstück so hastig, als würden sie für jeden Augenblick, den sie länger brauchten, Schläge erhalten, und kaum war es hell genug, dass man die Hand vor Augen sehen konnte, rückten die ersten Regimenter aus, gefolgt von der Artillerie mit ihren Feldgeschützen und Munitionswagen. Innerhalb kurzer Zeit leerte sich das Lager bis auf die Trossknechte und die Kompanien, die es schützen sollten. Zu seinem Leidwesen hatte Ilgur zurückbleiben müssen, während Kirilin und Schischkin zum König befohlen worden waren, um ihm anhand der Fahnen und Uniformfarben die einzelnen russischen Regimenter benennen zu können.
    Während die schwedische Armee in voller Stärke ausrückte, herrschte im Lager angespannte Ruhe. Die Leute hockten auf den Deichseln und Radnaben der Trosswagen und erwarteten, jeden Moment den dumpfen Klang der Kanonen und das helle Knattern der Musketen zu hören. Die Stunden vergingen jedoch, ohne dass sich irgendetwas ereignete. Da sich auch die Köche nur dafür interessierten, ob endlich Schlachtenlärm zu vernehmen war, fiel das Mittagessen aus, und als die Männer später am Nachmittag zu murren begannen, teilten ein paar Leute trockenes Brot aus und eilten möglichst schnell wieder auf ihre Lauschposten zurück. Für die Zurückgebliebenen vertropfte die Zeit nur zäh, und als die Sonne als tiefroter Ball den westlichen Horizont berührte, war immer noch nichts von einer Schlacht zu vernehmen. Stattdessen erschien ein sichtlich schlecht gelaunter Kurier und befahl den Soldaten und Trossknechten, das Lager abzubrechen und es bis zum nächsten Morgen drei Meilen nordwestlich wieder aufzubauen.
    Die Männer murrten über die in ihren Augen überflüssige Arbeit, denn das Heer hätte genauso gut zurückkehren können. Der Befehl des Königs war jedoch Gesetz, und so wurden die Zelte abgebaut und auf

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