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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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hatte Schirin ebenfalls vor, und daher schlängelte sie sich wie gewohnt durch die Reihen der zusammengelaufenen Soldaten, um einen guten Aussichtsplatz in der Nähe des Königs zu bekommen. Bald klangen laute Rufe auf, und schon stürmte eine Meute Kosaken im gestreckten Galopp auf die Spitze des Heereszugs zu. Der Anblick wirkte bedrohlich, und mehr als ein Schwede packte seine Muskete und machte sie feuerbereit. Ein Wink des Königs scheuchte die Männer zurück und unterband jegliche Vorbereitung zu seiner Verteidigung. Als sich ein Reiter aus der Schar der Ankömmlinge löste, trabte Carl XII. auf die Kosaken zu und hob grüßend die Hand.
    Der Anführer der Kosaken, ein älterer Mann mit einem scharf geschnittenen Gesicht und einem mächtigen Schnauzbart, war in einen prachtvollen roten Mantel, blaue Pluderhosen und eine riesige Pelzmütze gekleidet. Er brachte sein Pferd dicht vor dem des Königs zum Stehen, sprang aus dem Sattel und zwang damit seinen Gastgeber, es ihm gleichzutun. Carl streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen, doch der Kosak breitete die Arme aus, zog den Schweden mit einem fröhlichen Lachen in die Arme und küsste ihn auf beide Wangen.
    »Seid mir willkommen, Euer Majestät! Es freut mich, Euch zu sehen. Ihr habt diesem verdammten Zaren ganz schön eingeheizt, doch das war noch harmlos gegen das, was wir im nächsten Jahr gemeinsam mit ihm anstellen werden.«
    »Wer ist der Mann?«, fragte Schirin Kirilin, der in ihrer Nähe stand.
    »Das, Tatarenjunge, ist der Hetman der Ukraine und, wie du siehst, unser neuester Verbündeter.« Kirilins Stimme klang überheblich, verriet aber auch schlechte Laune. Bevor sie nachbohren konnte, drehte Carl XII. sich um und präsentierte dem Heer seinen neuen Gast.
    »Soldaten, heißt unseren Freund willkommen! Es ist Iwan Masepa, bis jetzt noch Hetman und bald schon Herzog der Ukraine.«
    Ein jubelndes »Ararr« erscholl, der Ruf, mit dem die Schweden ihre Freude ausdrückten. Schirin tat so, als würde sie ebenfalls aufjubeln, beschäftigte sich innerlich aber mit dem Grund für Kirilins finsteren Blick, den sie nun deuten konnte. Die östliche Ukraine, deren Kosaken Masepa zu ihrem Hetman erwählt hatten, gehörte zum Russischen Reich, doch der alte Mann strebte danach, die Herrschaft des Zaren abzuschütteln. Von diesem Tag an gab es kein Zurück mehr für ihn, denn wenn er sein Ziel nicht erreichte, würde der Zorn des Zaren ihn zerschmettern. Bislang war der Hetman in Sankt Petersburg zu den treuesten Untertanen und Verbündeten Pjotr Alexejewitschs gezählt worden, und daher mochte sein Abfall den Zaren so schwer treffen, dass dessen Herrschaft darüber zerbrach.Diesen Verrat, dachte Schirin, würde Pjotr Alexejewitsch nicht ungestraft hinnehmen, selbst wenn er Masepa mit in seinen eigenen Untergang reißen musste.
    Während Schirins Gedanken sich erst mit dem Zaren und dann mit Sergej beschäftigten, um dessen Zukunft sie zunehmend bangte, stellte Carl XII. den neuen Verbündeten seinen Generälen vor. Rehnskjöld, Lewenhaupt und Piper wirkten ebenso überrascht wie verwirrt, schienen sich aber über den unvermutet aufgetauchten Helfer zu freuen. Schirin konnte sich vorstellen, was sie jetzt dachten. Das schwedische Heer war in der Lage, die Ukraine innerhalb weniger Wochen zu erreichen, und wenn es sein Winterquartier in Masepas Herrschaftsbereich aufschlug und mit Lebensmitteln und Kriegsbedarf versorgt wurde, hatte es den Ausfall von Lewenhaupts Nachschub mehr als wettgemacht.
    In den nächsten Tagen zeigte sich, dass Masepas Ankunft die Kampfkraft der Schweden stärkte, weniger wegen der zweitausend Kosaken, deren Zahl angesichts der Masse der Soldaten verschwindend gering wirkte, sondern weil sie die Niedergeschlagenheit vertrieb, die das Heer König Carls erfasst hatte. Die Soldaten marschierten mit neuem Mut und voller Zuversicht nach Süden, und die Lieder, die in den letzten Wochen verstummt waren, klangen erneut über das Land. Nun konnten die Männer wieder über die russischen Streifscharen lachen, die Tag für Tag in ihrer Nähe auftauchten, denn mit Masepas Kosaken verfügte der König jetzt über eine bewegliche Einheit, die die Reiter des Zaren von seinem Heer fern halten konnte.
    Obwohl die ukrainischen Kosaken schnell zustießen, wagten sich kleine russische Streifscharen immer wieder bis fast auf Schussweite an das Heer heran. An einem schon empfindlich kalten Spätnachmittag ließ sich erneut einer dieser Trupps sehen und

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