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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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die Russen, die ebenfalls den Jesus-Gott anbeteten, wenn auch etwas anders als sie selbst. Schirin hatte bisher nur wenig über die Unterschiede zwischen den christlichen Sekten gehört und wusste nur, das sie einander ähnlich feindlich gegenüberstanden wie die Anhänger der Sunna und die Männer der Schiat Ali, die sich schon wenige Jahre nach dem Tod des Propheten im Streit getrennt und seitdem viele Kämpfe miteinander ausgefochten hatten.
    Während sie der Diskussion zuhörte, an der sich immer mehr Männer beteiligten, schien ihr nur eines gewiss zu sein: Die Schweden ahnten nicht einmal, was ihr König plante, und waren auf das, was die nächsten Tage bringen sollten, ebenso gespannt wie sie selbst.
    Schon am nächsten Morgen riefen Hornsignale die Soldaten zum Abmarsch. Die Vorreiter trabten tatsächlich nach Süden, und als der Hauptteil des Heeres aufbrach, marschierte er ein Stück auf der Straße zurück, auf der er gekommen war, und bog am späten Nachmittag auf einen besseren Karrenweg ab, der in die gewünschte Richtung führte. Die einzige glaubwürdige Neuigkeit, die inzwischen die Runde machte, war die Nachricht, dass der König Kuriere mit nur ihm bekanntem Ziel losgeschickt hatte.

XIII.
    In den nächsten Tagen liefen die wildesten Gerüchte durchs Lager, die jeder, der sie erzählte, als lauterste Wahrheit zu verkaufen suchte. Schirin erkannte rasch, dass jedes einzelne von ihnen die Wünsche und Träume jener Männer wiedergab, die sie ausstreuten oder weitertrugen. Die Krim und das Osmanische Reich versprachen milde Winter und Genüsse, nach denen sich die Phantasien der Soldaten sehnten. Diejenigen, die nach Südpolen wollten, hofften, dort in weniger fremder Umgebung und unter Freunden überwintern zu können, während vor allem die zwangsverpflichteten deutschen Söldner darum beteten, Carl XII. möge dieses endlos weite Russland mit seiner in ihren Augen unheimlichen Bevölkerung hinter sich lassen und sich Ziele suchen, die näher an ihrer Heimat lagen. Frankreich, der traditionelle Freund und Verbündete der Schweden, aber auch Österreich und England, die mit den Franzosen um die Krone Spaniens im Streit lagen, boten dem Alexander des Nordens Gold und Land, um ihn auf ihre Seite zu ziehen. Russland interessierte die Leute im Westen nicht, denn es war, wie Schirin schon in Sankt Petersburg gehört hatte, in den Augen der europäischen Reiche so geschwächt, dass es auf lange Zeit keine Rolle mehr spielen würde.
    Schirin beteiligte sich nicht an diesen Spekulationen, denn ihr Gefühl sagte ihr, dass der Schwedenkönig keine einzige von all den viel diskutierten Möglichkeiten wählen würde. Seine Miene war so verhärtet, dass niemand in seinen Zügen lesen konnte, und der Blick seiner eisfarbenen Augen verriet einen Fanatismus, der ihr Angst machte und sie mehr denn je bedauern ließ, die einzige Chance zur Flucht nicht früh genug erkannt zu haben.
    Vier Tage nach dem Aufbruch preschte ein Kurier der Vorhut heran und zügelte seinen Gaul so hart, dass das Tier vor dem König in dieHinterbeine knickte. »Mit einer Empfehlung von General Roos! Ein großer Trupp Kosaken nähert sich uns.«
    Die Umstehenden erwarteten, dass der König Alarm geben lassen würde, doch Carl XII. lächelte wie ein Mann, dessen Pläne sich zu erfüllen schienen, und klopfte dem Kurier leutselig auf die Schulter. »Auf diese Nachricht habe ich gewartet. Empfangt die Kosaken in meinem Namen, und bringt sie so rasch wie möglich zu mir!«
    Schirin, die mit einigen der anderen Sibirier Kirilin gefolgt war und nun hinter den Offizieren des Königs stand, hörte Carls erleichterten Ausruf und sah, wie Ilgur sich an die Stirn fasste. »Was will der Schwede mit Kosaken?«, fragte er mit der Miene eines Mannes, der Jermaks Erben die Eroberung Sibiriens nicht verziehen hatte.
    »Sich mit ihnen verbünden, was sonst?« Schischkin grinste triumphierend, so als kenne er die geheimsten Gedanken des Königs. Den anderen war sofort klar, dass Kirilin ihm etwas erzählt haben musste. Der einstige Gardehauptmann wurde immer noch häufig zum König gerufen, um Rede und Antwort über die Verhältnisse in Russland zu stehen, und hatte dabei wohl mehr erfahren oder erraten als andere. Nun sonnte Schischkin sich im Glanz dieses Wissens und blickte seine Kameraden von oben herab an. Ilgur bedrängte ihn sofort mit Fragen, aber der Russe antwortete nur ausweichend und schlug dem Sibirier vor, sich die Kosaken selbst anzusehen.
    Das

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