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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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die Wagen geworfen.
    Da sich zu wenige Arbeitskräfte im Lager befanden, mussten auch die Männer aus Kirilins Gruppe mithelfen. Während Ilgur und die anderen vor sich hin schimpften, atmete Schirin innerlich auf. Der russischen Armee schien es wieder einmal gelungen zu sein, sich dem Zugriff der Schweden zu entziehen, und sie war sich sicher, dass der Zar Carl XII. hinter sich herlocken und eher Moskau anzünden würde, als sich einer für ihn aussichtslosen Schlacht zu stellen. Damit gerieten Sergej und ihre anderen Freunde nicht so schnell in Gefahr, im Kampf zu fallen.

XII.
    Die Wut und die Enttäuschung über die von den Russen nicht angenommene Schlacht standen Carl XII. im Gesicht geschrieben, und als er mit seinen Offizieren sprach, verriet auch seine Stimme, welch schlechter Laune er war. Schirin gönnte dem überheblichen Schwedenkönig diese Entwicklung, verbarg ihre Schadenfreude aber hinter einer gleichmütigen Miene. Nun würde er noch tiefer in das Russische Reich hineinmarschieren müssen und dabei höchstwahrscheinlich nur noch verwüstete Landstriche vorfinden.
    Den Schweden gingen allmählich die Vorräte aus, und ihre Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag. Aus diesem Grund redeten alle, von den Beratern des Königs angefangen bis zum jüngsten Trommelbuben, von Lewenhaupts Nachschubtross, der sie mit allem versorgen würde, was sie auf ihrem Vormarsch nach Moskau benötigten. Jedem von ihnen war bewusst, dass die Zeit drängte, denn es ging bereits auf Ende Oktober zu, und noch trennten sie viele hundert Werst von ihrem Ziel. Um Lewenhaupts Vormarsch zu beschleunigen, schickte der König Kuriere zu ihm, die ihn zur Eile antreiben sollten, aber es dauerte noch mehr als eine Woche, bis die Nachricht das Lager erreichte, der General würde noch an diesem Tag eintreffen.
    Der Jubel, mit dem die Männer auf die Botschaft reagierten, gellte in Schirins Ohren. Ungeachtet ihrer Ränge stürmten Soldaten und Offiziere wie kleine Jungen aus dem Lager, um den so sehnlichst Erwarteten zu begrüßen, und Schirin wurde von der Menge mitgerissen. Sie prallte gegen einen Mann und erhielt von ihm einem Stoß gegen ihren verletzten Arm, der sie aufkeuchen ließ. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als mit den anderen mitzulaufen, denn sonst wäre sie niedergetrampelt worden.
    Sie versuchte, nicht eingeklemmt zu werden, und wurde dabei in die erste Reihe der Männer gespült, die die Straße säumten, auf der Lewenhaupts Armee einziehen sollte. Als sie ihren Platz behauptet hatte und sich umsah, konnte sie in der Ferne die Staubwolke sehen, die das Nahen des Generals und seines Nachschubs ankündigte, und sie hörte die Soldaten um sie herum sich lachend darüber unterhalten, was Lewenhaupts Tross alles mitbringen würde. Gebraucht wurde eigentlich alles, angefangen von Mehl und Fleisch über frische Uniformen bis hin zu Schießpulver. Alle sehnten sich nach Genüssen aus ihrer Heimat, auf die sie seit vielen Wochen hatten verzichten müssen.
    Als Lewenhaupts Armee in Sicht kam, verstummten das Lachen und die fröhlichen Gespräche. Das, was sich da dem Lager näherte, war kein Tross mit mehreren tausend Bagagewägen und auch kein stolz marschierendes Heer, sondern ein Haufen zerlumpter Kerle, die mit brennenden Augen und hungrigen Gesichtern auf das Lager zustolperten. Viele von ihnen trugen verschmierte Verbände, und etliche hielten sich nur mit Hilfe der Kameraden aufrecht oder wurden auf primitiven Bahren getragen. Nur die schwere Kavallerie wirkte noch halbwegs intakt, wenngleich die Kürassiere nicht weniger hungrig aussahen als die übrigen Soldaten und ihren Pferden eine Extraration Hafer nicht geschadet hätte.
    Carl XII. hatte es ebenfalls nicht mehr im Lager gehalten, und als er an Schirin vorbeiritt, sah man ihm an, dass er nicht begreifen konnte, was er vor sich sah. Lewenhaupt hatte sich von seiner Truppe gelöst und ritt mit einigen seiner Offiziere auf den König zu. Er salutierte müde. »Ich bedauere, Euer Majestät, Euch keine bessere Nachricht bringen zu können. Es ist mir zwar gelungen, mit meinem Tross den Dnjepr zu erreichen und zu überschreiten. Doch dann wurden wir von überlegenen russischen Truppen angegriffen und mussten schließlich den Train samt den Kanonen zurücklassen. Ich habe in den mehrere Tage andauernden Gefechten meine halbe Armee verloren.«
    Schirin spürte die unausgesprochene Anklage, die in den Worten des Generals mitschwang. Hätte Carl XII. wie abgesprochen

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