Die Tatarin
von ihr genommen. Sie fühlte sich mit einem Mal ganz leicht und frei, so als verbinde sie nur noch ein dünner Faden mit ihrem Körper. Nun würde sie als Bahadur sterben und verscharrt werden, und das war gut so, denn Sergej durfte niemals wissen, wie sehr sie ihn belogen und betrogen hatte. Erführe er, dass sie eine Frau war, würde er vor ihrer Verworfenheit ausspeien und sie verachten, wie sie es verdient hatte. Sie war monatelang unter Männern geritten, als wäre sie ihresgleichen, hatte mit ihnen unter einem Dach geschlafen und sogar im selben Badezuber gesessen. Bei ihrem Volk wäre eine Frau, die Ähnliches getan hätte wie sie, nackt in die Steppe hinausgetrieben worden. Mittlerweile hatte sie genug über die Russen gelernt, um zu wissen, dass diese als Christen genauso wie ihre moslemischen Stammesleute von ihren Frauen verlangten, sich in ihre von Gott auferlegte Rolle zu fügen und sich nicht wie Männer zu gebärden. Vor Allah und vor den Menschen spielte es dabei keine Rolle, dass sie dieses Täuschungsspiel nur auf Zeynas Befehl hin begonnen hatte.
Ihr Blick fiel auf den Zaren, der das Geschehen mit sichtlicher Zufriedenheit verfolgte, und sie erinnerte sich wieder an die von Kirilin ausgesandten Meuchelmörder. Etwas in ihr schrie auf, ihr Wissen preiszugebenund damit die letzte Chance zu nutzen, am Leben bleiben zu dürfen. Für einen Augenblick wollte ihr Mund Worte formen. Doch sie kniff die Lippen zusammen und schüttelte mit einer heftigen Bewegung den Kopf. Niemand sollte sie um Gnade betteln hören, am wenigsten der Zar selbst, der in ihren Augen ein Narr war und mit offenen Augen nicht sehen wollte. Er hätte sich doch denken können, dass sie nicht ohne Grund zu seinen Leuten zurückgekehrt war, sondern eine wichtige Botschaft brachte. Jeder kleine Khan in der Steppe hätte besser reagiert als Pjotr Alexejewitsch und auf seinen Verstand gehört. In ihrer Heimat war man wechselnde Allianzen gewohnt, und auch, den Feind von gestern als Verbündeten von heute an die Brust zu drücken. Der Zar hingegen …
Pjotr Alexejewitsch bemerkte, dass Bahadurs Gesicht mit einem Mal hochmütig, beinahe sogar zufrieden wirkte, und ihm wurde klar, dass der Tatar aus einem ihm unerfindlichen Grund den Tod als Erlösung begrüßte. Das war nicht in seinem Sinn, denn er hatte sehen wollen, wie der Verräter winselte und um sein Leben flehte. Um die Lippen des Jungen aber spielte auch noch angesichts der Schlinge, die einer der Soldaten geknüpft hatte, ein verächtliches Lächeln. Zwei der vier Männer, die die Hinrichtung vollziehen sollten, schleppten den Tataren nun unter den Baum und streiften ihm die Schlinge über den Kopf, während die beiden anderen das Seil anzogen. Pjotr Alexejewitsch wartete, bis sich der Strick um den Hals des Delinquenten spannte, und hob dann gebieterisch die Hand.
»Halt! So leicht wollen wir es diesem Bürschchen nun auch nicht machen. Er soll noch miterleben, wie wir seine schwedischen Freunde zermalmen und ihn dann zusammen mit den anderen Verrätern hängen!« Bahadur wirkte fast ein wenig enttäuscht, was dem Zaren zumindest eine kleine Befriedigung verschaffte, und Pjotr Alexejewitsch hoffte, dass die Tage und Nächte, die der Tatar in Todesangst verbringen würde, dessen Panzer durchbrechen und einen kriechenden Wurm aus ihm machen würden, bevor er seinem gerechten Schicksal entgegenging.
»Sperrt ihn ein, und bewacht ihn gut!«, rief er und kehrte mit schweren Schritten zu seinem Zelt zurück.
Schirin war bewusst, dass sie ihm nachrufen und ihm von Kirilins hinterhältigem Plan hätte berichten können, doch nun war sie nur noch die Tochter ihres Vaters. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut«, murmelte sie in der Sprache ihres Stammes vor sich hin. Einst hatte sie das Ordu an der Burla verlassen, um den Zaren zu töten und damit ihr Volk vor der Bedrängung durch seine Soldaten und Steuereintreiber zu bewahren. Nun würde er sterben, zwar nicht durch ihre Hand, sondern durch die eines russischen Verräters, und doch würde sein Tod ein Teil ihrer Rache sein.
IV.
Die Nachricht von Bahadurs Gefangennahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer im russischen Heer und erreichte drei Tage später auch Sergej. Zunächst wollte er nicht glauben, dass der Junge so dumm gewesen war, das schwedische Lager zu verlassen und auf die Truppen des Zaren zuzureiten. Am Abend des Tages, an dem er das Gerücht vernommen hatte, traf er jedoch auf Schobrin, der sich mit seinem
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