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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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gezogen hatte.
    Ein anderer wäre vielleicht mit schamrotem Gesicht und gebeugtem Nacken davongeschlichen und hätte eingesehen, dass er für Bahadurnichts mehr tun konnte. Sergej aber dachte nicht daran, aufzugeben. Er winkte Kitzaq, ihm ein Stück weit zu folgen, bis sie vor fremden Ohren sicher waren. »Ich lasse nicht zu, dass Bahadur gehängt wird. Da der Zar nicht bereit ist, ihn zu begnadigen, werden wir ihn eben befreien.«
    Kitzaq musterte den Hauptmann, als suche er Spuren beginnenden Wahnsinns. Während Sergejs Gespräch mit dem Zaren hatte er einen Blick auf das Zelt geworfen, in dem Schirin gefangen gehalten wurde, und er hätte ihm ein Dutzend Gründe nennen können, die gegen einen Befreiungsversuch sprachen. Die doppelten Schildwachen vor dem Eingang waren nur einer davon. Rings um die Unterkunft des Zaren standen Feuerkörbe, und da man Schirin innerhalb dieses Kreises gefangen hielt, der dazu noch von einem dreifachen Wachkordon umgeben war, wurde ihr Zelt nachts hell angeleuchtet und von Dutzenden von Augen überwacht. Unter diesen Umständen war ein Befreiungsversuch sicherer Selbstmord.
    Zu seiner eigenen Verwunderung nickte Kitzaq jedoch. »Wenn du Sch … Bahadur befreien willst, bin ich dabei.« Es kam nicht mehr darauf an, sagte er zu sich selbst, wo er lebte oder starb, denn er war ein Ausgestoßener, und ohne Stamm war ein Mann in der Steppe verloren. Wenn der Krieg vorbei war, gehörten ihm nicht mehr als sein Pferd, sein Säbel und die Beute, die er gemacht und zum Teil schon wieder verloren hatte. Es gab keinen Ort, an den er zurückkehren konnte, und er glaubte nicht an Kangs Versprechen, sein Stamm würde ihn und die anderen Heimatlosen aufnehmen. Der Kalmücke war selbst mit seinen Anhängern aus dem heimatlichen Ordu vertrieben worden, und es bestand die Gefahr, dass seine Stammesgenossen ihm und denjenigen, die er mitbrachte, die Beute abnahmen und sie ohne Pferde und Waffen in die Steppe hinaustrieben. Sterben konnte er auch hier, aber wenn es ihm tatsächlich gelänge, Schirin zu befreien und in Sicherheit zu bringen, hätte er sich wenigstens im Geiste an seiner Schwestergerächt, die das Mädchen einem sicheren Tod bei den Russen ausgeliefert und ihn aus der Stammesgemeinschaft vertrieben hatte. Ganz in seinen eigenen Gedanken und Plänen versponnen bemerkte Sergej nichts von Kitzaqs innerem Kampf, sondern reichte ihm die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir werden es schon schaffen, mein Guter!«
    Im Grunde seines Herzens fühlte er jedoch, dass er nicht an einen Erfolg glaubte, doch er war bereit, einen Opfergang anzutreten, um Bahadur, den er mehr schätzen und lieben gelernt hatte als jeden anderen Menschen, zu zeigen, dass es einen Freund gab, der bereit war, an seiner Seite zu sterben.

V.
    Sergej suchte einige Bekannte auf, vorgeblich, um seine Freundschaft mit ihnen zu bekräftigen. Vor allem aber wollte er sie über die Standorte der einzelnen russischen Truppenteile aushorchen, um diese bei einer möglichen Flucht nach der Befreiung umgehen zu können. Kitzaq schlenderte unterdessen ziellos durch das Kriegslager, setzte sich schließlich in die Nähe des Eingangs und sann nach. Das Ergebnis blieb immer das gleiche: er hielt sich für einen noch größeren Narren als Sergej. Während der junge Hauptmann von Gefühlen für Schirin beherrscht wurde, die er wohl selbst nicht verstand, und daher nicht mehr klar denken konnte, steuerte er selbst sehenden Auges auf das Verhängnis zu. Mehr als einmal überkam ihn der Wunsch, auf sein Pferd zu steigen und alles hinter sich zu lassen. Doch für ihn gab es kein Ziel, das zu erreichen sich lohnte.
    Während Kitzaq vor sich hin starrte und versuchte, mit sich ins Reine zu kommen, fuhr eine Kutsche in schnellem Tempo die Straße heran und rauschte an den Wachtposten vorbei, die zur Seite springen mussten, um nicht überrollt zu werden. Einer der Soldaten fluchte und legte seine Waffe an, doch ein anderer schlug ihm den Lauf nach oben.
    »Idiot! Das war der Wagen Mütterchen Jekaterinas, die zum Zaren will. Willst du etwa auf sie schießen?«
    Die Waffe entfiel dem Soldaten, und er fuchtelte mit den Armen.
    »Nein, gewiss nicht! Ich habe den Wagen wirklich nicht erkannt.«
    »Dann schau ihn dir genau an, damit du das nächste Mal salutierst, wenn du ihn kommen siehst!«, spottete sein Kamerad und kehrte auf seinen Posten zurück.
    Kitzaq hatte den kurzen Diskurs der beiden mit der Miene einesMannes verfolgt, der sich

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