Die Tatarin
die Herren Schobrin und Tschelpajew aus Karasuk, der Stadt jenseits des Urals, in der sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Der Befehl des Zaren hatte auch diese Männer nach Westen gerufen, und sie mussten sich schon im Kampf bewährt haben, denn beide hatten nun höhere Ränge inne. Schirin empfand es als eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet einer der Männer, die Sergej geholfen hatten, ihren Stamm zu unterjochen, sie zum Zaren bringen würde. Hatte sie bei ihrem Aufbruch von Karasuk noch in den von Zeyna genähten Gewändern geprunkt, glich sie nun einem Strauchdieb, den niemand mehr als Narren bezeichnen würde, weil er die Russen durch seine Kleidung auf den Reichtum seines Stammes aufmerksam machte.
Schobrin befahl zehn Leuten, ihn zu begleiten, und bedachte Goldfell mit einem Blick, der verriet, dass der Major das Tier am liebsten für sich selbst behalten hätte. Doch der Hengst mit dem in der Sonne gleißenden Fell war zu bekannt, und er wagte es nicht, das Pferd zu unterschlagen. Er machte seiner Verärgerung darüber Luft und zog Schirin seine Reitpeitsche über den Rücken. Der Hengst musste den Schmerz seiner Reiterin gespürt haben, denn er rannte los und zerrte dabei den Soldaten, der ihn am Zügel hielt, beinahe aus dem Sattel.
»Halte den Gaul doch endlich kurz«, fuhr Schobrin seinen Untergebenen an.
Dieser versuchte, die Zügel näher beim Maul zu fassen, doch Goldfell warf den Kopf hoch und riss sie ihm beinahe aus der Hand. Da ein weiterer Versuch, das Tier zu bändigen, mit einem unsanftenSturz des Mannes endete, kam ihm ein Zweiter zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie es, Goldfells Zügel um das Sattelhorn des schwereren Dragonerpferds zu wickeln, so dass das dickfellige Tier den wild schnaubenden und trampelnden Hengst allein durch sein Gewicht bändigte.
Schirin hatte den Zwischenfall stumm und regungslos über sich ergehen lassen, froh, dass sie dabei nicht aus dem Sattel gerutscht war, denn sie glaubte fest, dass der Major überreagiert hatte. Wenn sie Pjotr Alexejewitsch vor den Meuchelmördern warnte, würde dieser ihr gewiss nicht länger böse sein. Viel mehr als die Reaktion des Zaren beschäftigte sie die Frage, wie sie sich Sergej gegenüber verhalten sollte, der sie ja noch immer für Bahadur hielt.
Erst, als sie in das russische Lager gebracht wurde, kam ihr zu Bewusstsein, dass man ihr das Überlaufen zu den Schweden höchst übel genommen hatte. Soldaten und Knechte liefen zusammen, um sie anzustarren, und keilten ihre Eskorte beinahe ein. Flüche gellten auf, Fäuste wurden drohend geschwungen, und einige warfen mit Steinen und Holzstücken nach ihr, ohne dass jemand einschritt. Die kurze Strecke ins Zentrum des Lagers wurde für sie zu einem Spießrutenlauf, denn erst, als die Gruppe das Zelt des Zaren erreichte, drängten dessen Gardisten die Menge ab. Aber die Leute zerstreuten sich nicht, sondern blieben im Halbkreis stehen.
Pjotr Alexejewitsch beriet gerade mit seinen Generälen den weiteren Vormarsch, als Schobrin mit dem tatarischen Deserteur gemeldet wurde, und seine sorgenvoll angespannte Miene verzog sich jäh. Ohne den Satz, den er begonnen hatte, zu beenden, kehrte er seinen Getreuen den Rücken und stürmte auf Schirin zu.
»Du verräterischer, räudiger Köter!« Er riss den vermeintlichen Tatarenkrieger aus dem Sattel, gab ihm eine Ohrfeige, die ihn zu Boden schleuderte, trat ihn und schlug so auf ihn ein, dass man die Rippen des Gefangenen knacken hörte. Dann riss er Menschikow, der ihm gefolgt war, den juwelenbesetzten Säbel aus der Scheide und holte aus.
Schirin hörte die Klinge durch die Luft zischen und wartete trotz der Schmerzen, die in ihrem Körper tobten, wie zu Stein erstarrt auf den Schlag, der ihren Nacken treffen und ihrem Leben ein Ende setzen würde. Doch nichts geschah. Sie vernahm nur ein paar heftige Atemzüge über sich und sah den Säbel neben sich zu Boden fallen. »Eine gute Klinge ist zu schade für diesen Tatarenhund! Los, hängt ihn an den nächsten Baum!« Der Befehl galt einigen Männern seiner Leibwache, die der Szene ebenso neugierig gefolgt waren wie die übrigen Zuschauer. Die Kerle sahen sich an, packten den Gefangenen und schleiften ihn durch die sich öffnende Menge auf einen einzeln stehenden Baum mit kräftigen Ästen zu.
Für einige sich schier endlos dehnende Augenblicke schwappte die Todesangst wie eine eisige Welle über Schirin hinweg, dann aber war es, als hätte eine gnädige Hand alle Furcht
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