Die Tatarin
müssen.
Schirin war noch ganz in ihre düsteren Visionen verstrickt, als die Russen am nächsten Morgen die Türen öffneten und die Geiseln wie eine Herde Schafe in die Gaststube trieben. Erst als jemand fröhlich grüßte, blickte sie von ihrem Frühstück auf, in dem sie lustlos herumgestochert hatte, denn sie hatte unzweifelhaft die Stimme Jurij Gawrilitschs vernommen. Der Mann sah aber nicht wie Jurij Gawrilitsch aus, denn er trug einen knielangen, eng anliegenden braunen Rock, eine helle Weste und seltsam geformte Lederschuhemit Kupferschnallen. Ob er Hosen anhatte, konnte Schirin von ihrem Platz aus nicht erkennen, da sie nur seine Waden sah, die in naturfarbenen Wollstrümpfen steckten. Die Wangen des Mannes waren glatt rasiert, die Oberlippe zierte der Rest eines Bartes, und er trug eine seltsame Haube aus Rosshaar auf dem Kopf, die in einem Zopf endete. Da sie noch nie eine Perücke gesehen hatte, starrte sie den Mann verwirrt an.
»Da staunst du wohl, Söhnchen?«, sagte er erneut mit Jurij Gawrilitschs Stimme, setzte sich auf den freien Platz neben sie, winkte den Wirtsknecht heran und bat ihn, einen weiteren Stuhl für sein Töchterchen zu bringen. In dem Moment betrat auch Mascha die Wirtsstube, und nun fiel nicht nur Schirin der Kiefer vor Staunen herab. Die Tochter des Kaufmanns steckte in einem oben weit ausgeschnittenen, dunkelroten Kleid, das ihre stattlichen Brüste in einer geradezu obszönen Art zur Geltung brachte. Ihr Gesicht war weiß gepudert, wies aber auf der Wange einen kleinen dunklen Fleck auf, den Schirin vorher nicht bei ihr bemerkt hatte. Auch sie trug ihr eigenes Haar bedeckt, nur hatte sie sich eine Art Mütze aus blondem Frauenhaar zugelegt, die zu einer hohen, kunstvoll gelegten Frisur geformt war. Dazu hielt die junge Frau ein schirmartiges Gebilde in den Händen, mit dem sie ihr Gesicht zum Teil verdeckte. Schirin aber nahm durchaus wahr, dass Mascha die Aufmerksamkeit genoss, die sie bei den anwesenden Männern erregte.
Jurij Gawrilitsch grinste Bahadur an. »Jetzt staunst du wohl noch mehr?«
Die junge Tatarin konnte nur nicken, denn es hatte ihr die Sprache verschlagen.
Gawrilitsch wies auf sich selbst. »Daran ist der Zar schuld, dem Sitte und Brauchtum des ewigen Mütterchen Russland nicht mehr gelten und der uns in Röcke stecken lässt, wie die Polen und Deutschen sie tragen. Wenn ein Russe sich so kleiden will, wie es einem Russen geziemt, muss er hohe Steuern zahlen und wird oft genug von den Dienern des Zaren beleidigt, geschlagen oder gar in denKerker geworfen. Jetzt wo Krieg herrscht, ist es doppelt schlimm. Trüge ich westlich des Urals die anständige Gewandung unserer Väter, würde man mir in jeder Stadt eine Bart- und Kleidersteuer abverlangen, und ich würde an das blutsaugerische Gesindel, das der Zar herumschickt, mehr zahlen müssen, als ich in Nischni Nowgorod verdienen kann. Nicht mit Jurij Gawrilitsch, habe ich mir gesagt, und daher mein Töchterchen und mich auf die neumodische Art gekleidet, die Pjotr Alexejewitsch gefällt. So wie wir jetzt aussehen, könnten wir jederzeit vor den Zaren treten.«
Da Schirin weder den Zaren noch dessen Vorlieben kannte, blieb sie erneut die Antwort schuldig. Gawrilitsch schien auch keine erwartet zu haben, denn er sprach fast ansatzlos weiter. »Der Wind aus Moskau bläst uns einfachen Leuten arg kalt um die Ohren, Söhnchen, doch ein Russe ist wie eine Birke, die sich im Sturm biegt, aber nicht bricht. Das wird unser erlauchter Zar auch noch lernen müssen.«
Ein voller Krug Kwass und ein großes Stück kalten Bratens, das der Wirtsknecht eben auftischte, beendeten den Monolog des Kaufmanns, und er wandte sich dem Frühstück zu. Als er Sergejs nachdenklichen Blick auf sich gerichtet sah, kam er auf das Thema zu sprechen, das ihn am meisten interessierte.
»Nun Väterchen Offizier, hast du dich schon entschieden, wie wir weiterreisen werden? Wenn du mich fragst, rate ich dir, ein Floß oder ein Schiff zu nehmen. Wir könnten auf der Bjelaja bis zur Kama fahren, dieser dann bis zur Einmündung in die Wolga folgen und uns schließlich auf dem großen Strom bis Nischni Nowgorod hochtreideln lassen.«
Sergej kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, als müsse er einen unangenehmen Gedanken verscheuchen. »Nein, Jurij Gawrilitsch. Das dauert mir zu lange. Wir werden reiten, und wenn du mit uns reisen willst, musst du deine Kutsche benutzen.«
Der Kaufmann hätte eine gemütliche Fahrt über die Flüsse
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