Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
Lippen zu heben, ohne einen Tropfen zu verschütten.
    Sergej trank ebenfalls, stellte dann das Glas ab und salutierte vor Jakowlew, als stände er vor einem Ehrenmann und nicht vor einem besoffenen Verräter. »Wenn Ihr erlaubt, Väterchen, würde ich jetzt gerne wieder in mein Quartier zurückkehren, denn es sind noch einige Vorbereitungen für unsere morgige Weiterreise zu treffen.«
    »Schick mir eine Flasche Wodka aus der Herberge, mein Guter, denn ich fürchte, mein Bursche wird so schnell nicht zurückkommen.« Jakowlew versuchte ebenfalls zu salutieren, schwankte dabei jedoch wie ein Rohr im Wind und wischte sich mit der rechten Hand den Dreispitz vom Kopf.
    Sergej bückte sich, um den Hut aufzuheben, und verabschiedete sich dann. Auf dem Rückweg zur Herberge sagte er sich, dass ihm ein Mann wie Mendartschuk, der an der äußersten Grenze des Russischen Reiches Wache hielt, tausendmal lieber war als der Kommandant von Ufa. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er den erhaltenenBrief ins nächste Feuer werfen und vergessen sollte. Seine Neugier ließ ihn jedoch davon absehen. Und sollte er durch Zufall tatsächlich auf eine Verschwörung gestoßen sein, so musste der Zar davon erfahren.

XII.
    Da Sergej seinen eigenen Gedanken nachhing und Wanja auf der Suche nach einem Freund war, der hier in Ufa stationiert sein sollte, blieben die sibirischen Geiseln auch weiterhin der Obhut der Dragoner überlassen, die das Wort Ruhetag wörtlich nahmen und die Geiseln nicht aus ihren engen Kammern herausließen. Nicht einmal zum Essen durften die Sibirier in die Wirtsstube, sondern bekamen kurzerhand ein Brett mit Fladen und Piroggen hingestellt, die sie im schwankenden Licht einer einzelnen Öllampe essen mussten. Es war, als seien die Zustände von Karasuk wiedergekehrt, die Männer wurden reizbar, und mehr als einmal drohten ihre Streitereien zu Handgreiflichkeiten auszuarten. In der Kammer, die Schirin mit fünf anderen teilen musste, war es so eng, dass man sich kaum herumdrehen konnte, und als Ostap Ilgur, der ans Fenster wollte, nicht rasch genug Platz machte, versetzte dieser dem Jungen einen so heftigen Schlag, dass dem Kleinen das Blut aus der Nase lief.
    »Das wird dich lehren, das nächste Mal besser aufzupassen«, setzte Ilgur grimmig hinzu.
    Die anderen Männer wagten nicht zu protestieren; Schirin hielt ebenfalls den Mund und begnügte sich damit, Ostaps Blut mit einem halbwegs sauberen Tuch zu stillen.
    »Irgendwann steche ich diesen Hund ab«, flüsterte der Junge seinem großen Freund ins Ohr und strich dabei über Schirins Dolch. Sanft schob sie seine Hand weg. »Bis du das tun kannst, musst du erst noch größer und stärker werden!«
    Der Junge brummte unwillig, hielt aber weiter still. Während Schirin geduldig darauf wartete, dass sich das Tuch nicht weiter rot färbte, fragte sie sich, ob die Russen Ostap überhaupt die Chance geben würden, ein erwachsener Mann zu werden. Sie bezweifelte es undglaubte auch nicht, dass sie selbst ihr nächstes Lebensjahr erreichen würde.
    In dieser Nacht fand sie noch weniger Schlaf als in der letzten. Die Wände schienen sie erdrücken zu wollen, und alles in ihr schrie nach Rückkehr in die Heimat, ganz gleich, welche Folgen eine Flucht für ihre Leute haben mochte. Sie war sich sicher, dass es ihr gelingen würde, Sergej Tarlow, den Wachtmeister und die Begleitdragoner zu überlisten, aber sie ahnte, dass sie nicht weit kommen würde. Wohl lief ihr Hengst Goldfell schneller als die Soldatenpferde, doch ihre Kleidung verriet ihre Herkunft, und jeder Russe, dem sie begegnete, würde ihr die Verfolger auf den Hals hetzen. Spätestens im Uralgebirge mit seinen hohen Pässen und unzugänglichen Schluchten, in denen sie weder Weg noch Steg kannte, musste sie scheitern. Nein, ein schmählicher Tod auf der Flucht war nicht in ihrem Sinn, denn wenn man sie wieder einfing, würde sie in Ketten geschlagen werden, wie Sergej Tarlow und der Wachtmeister ihr es schon angedroht hatten, und dann hatte sie keine Möglichkeit mehr, den Zaren umzubringen. Wenn ihr Tod einen Sinn haben sollte, musste sie so tun, als habe sie sich in ihr Schicksal ergeben, und dann im richtigen Moment zuschlagen. Sie würde ihrem ursprünglichen Plan folgen und den Zaren töten, ganz gleich, welches Ende sie danach erwarten mochte.
    Doch die Aussicht auf eine große Tat stimmte sie nicht fröhlicher, und sie trauerte um sich selbst, weil sie im siebzehnten Sommer ihres Lebens würde sterben

Weitere Kostenlose Bücher