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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Zeit, in der er die Wirtsmagd besprungen hatte, war er wehrlos gewesen. Hätte Bahadur ihn dort entdeckt, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, ihm den Dolch in den Rücken zu stoßen. Man hätte ihm diese Tat nicht einmal nachweisen können, da jeder eifersüchtige Knecht verdächtiger gewesen wäre als er. Mit einer heftigen Handbewegung wischte Sergej diesen Gedanken von sich, denn der Tatar hätte ja auch die Magd töten müssen, und so viel Kaltblütigkeit traute er diesem halben Kind dann doch nicht zu. »Ich weiß nicht, Väterchen Hauptmann, aber dein Gesicht gefällt mir heute gar nicht.« Nachdem es ihm nicht gelungen war, Bahadur in ein Gespräch zu verwickeln, versuchte der Wachtmeister es nun bei seinem Vorgesetzten.
    Sergej atmete tief durch und zupfte einige weitere Birkenblätter von einem Ast. »Ich mache mir Sorgen, Wanja.«
    »Sorgen? Warum denn? Die Geiseln sind wir spätestens morgen los, und was unser Mütterchen Russland betrifft, so ist es nicht deine Aufgabe, dir Sorgen darum zu machen. Das tut schon Väterchen Zar für uns.« Wanja versuchte Sergej aufzumuntern, und für den Augenblick schien es, als würde es ihm gelingen. Die Miene des Hauptmanns entspannte sich, und er sog den Duft der Birken tief in sich ein. Dann glitt sein Blick wieder zu Bahadur, und sein Gesicht verwandelte sich erneut in eine starre Maske.
    Wanja hatte seinen Blick bemerkt. »Ärgerst du dich über dieses Bürschlein, das noch ein paar Jahre braucht, um hinter den Ohren trocken zu werden, Sergej Wassiljewitsch?«
    Sergej zog so heftig am Zügel, dass Moschka protestierend schnaubte. »Was heißt hier ärgern? Ich will ihn nur nicht aus den Augen lassen. Schließlich ist er ein unberechenbarer Wilder.«
    »Dann solltest du ihm die Waffen abnehmen und ihn fesseln lassen. Ich wundere mich bereits seit Ufa, warum du das nicht getan hast. Das Kerlchen sieht mir ganz so aus, als würde er sich für die Farbe deiner Leber interessieren.« Obwohl es ernst gemeint war, brachte Wanja die Worte so drollig heraus, dass Sergej lachen musste.
    »Meine Leber geht weder Bahadur etwas an noch sonst irgendjemanden außer mir.«
    »Also lässt du mich ihn entwaffnen und binden?«, fragte Wanja mit aufforderndem Blick.
    Zu seiner Enttäuschung schüttelte Sergej den Kopf. »Welchen Grund hätten wir dafür, außer seinem kindischen Benehmen? Oberst Mendartschuk war der Meinung, wir sollten das aufgeputzte Tatarenjüngelchen dem Zaren so vorführen, wie wir es bekommen haben, und genau das werden wir tun!«
    Der Wachtmeister zog unwillig die Schultern hoch, wechselte aber das Thema. »Was meinst du, Sergej Wassiljewitsch? Wird Väterchen Pjotr Alexejewitsch sich in Moskau aufhalten?«
    Sergej legte den Kopf schief. »Niemand weiß heute, wo der Zar morgen ist, es sei denn, der heilige Wladimir hätte es ihm ins Ohrgeflüstert! Doch ganz im Vertrauen: Ich glaube, selbst der Heilige weiß es nicht.«
    »Ja, ja! Pjotr Alexejewitsch saust wie ein Wirbelwind durch das Land. Das ist zum einen gut, weil er viel sieht und nicht auf seine Zuträger angewiesen ist, zum anderen aber auch schlecht, denn bislang hat noch kein Zar das heilige Moskau so oft und so lange verlassen wie er. Wie will man ihn finden, wenn man nicht weiß, wo er zu suchen ist? Wäre er in Moskau, müsste man seine Schritte nur zum Kreml lenken und würde vor ihm stehen.«
    Wanja begleitete seine Worte mit einem missbilligenden Kopfschütteln. In all den Liedern und Märchen, denen er in seiner Jugend gelauscht hatte, hatten die Großfürsten und Zaren in Moskau gelebt und es nur selten zu einer Wallfahrt oder für einen Kriegszug verlassen. Pjotr Alexejewitsch hingegen ließ sich ganze Jahre lang nicht in der Metropole des Reiches sehen, und nun hatte er sogar eine neue Stadt gebaut, von der es hieß, sie solle das heilige Moskau als Residenz und Zentrum des Reiches ablösen. Das war eine Veränderung, die einen braven Russen wie Wanja erschreckte. Wie viele andere in diesen schlechten Zeiten sehnte er sich nach den stillen, überschaubaren Tagen seiner Jugend zurück, in der der Zar noch als Mittler zwischen Himmel und Erde gegolten hatte, nicht mehr ganz Mensch und noch kein anbetungswürdiger Heiliger, aber knapp darunter.
    Während er seinen Gedanken nachhing, lauschte Wanja dem Rauschen des Windes in den Blättern. Das Geräusch unterschied sich nicht von dem, welches er von Jugend auf kannte, und doch empfand er es anders. Sein Blick fiel wieder auf Sergej, und in diesem

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