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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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missachteten und versuchten, den Wodka genauso schnell in sich hineinzustürzen wie ihre Bewacher. Die Folge war, dass sie schon nach kurzer Zeit zur Belustigung der übrigen Gäste unter die Tische rutschten und schnarchend liegen blieben. Offensichtlich lag es in der Absicht der Russen, den Willen ihrer Geiseln mit Alkohol zu brechen und sie auf diese Weise zu Speichelleckern ihres Zaren zu machen. Das aber würde bei ihr nicht gelingen, schwor sie sich, als sie die Wirtsstube nach einem letzten, vernichtenden Blick auf Sergej verließ, um sich in ihre Kammer zurückzuziehen.
    Mitten in der Nacht wurde sie durch ein plätscherndes Geräusch geweckt. Rasch sprang sie aus dem Bett, stieß die kleine Luke auf, die als Fenster diente, und blickte ins Freie. Es regnete heftig, und die hölzerne Regenrinne konnte das Wasser nicht mehr fassen. Daher stürzte genau vor ihrem Fenster ein kleiner Wasserfall zu Boden. Schirin konnte wegen des verhangenen Himmels die Zeit nicht abschätzen, aber da sich weder in der Herberge noch in den Nachbarhäusern etwas regte, legte sie sich wieder ins Bett. Es gelang ihrjedoch nicht mehr einzuschlafen, und so stand sie nach einer Weile auf, wusch sich mit dem Wasser, das vom Abend übrig geblieben war, und zog sich an. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass ihr Busen flachgeschnürt war und ihre Erscheinung so männlich wie möglich wirkte. Dann setzte sie sich aufs Bett, hüllte sich tief in ihre düsteren Betrachtungen und wartete darauf, dass die vom Wodka betäubten Schläfer erwachten.
    Beim ersten Morgengrauen hörte Schirin Sergej Tarlows Stimme laut durch die Herberge hallen. Wie immer trieb er seine Dragoner und die übrigen Geiseln zur Eile an. Sie schien er jedoch vergessen zu haben, oder er erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie sich eine Kammer gemietet hatte. Für einen Augenblick gab Schirin sich der Vorstellung hin, einfach sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis die Dragoner mit den übrigen Geiseln den Ort verlassen hatten. Dann aber wurde ihr klar, dass die Männer nach ihr suchen oder zumindest Goldfell mitnehmen würden, und ohne ihren Hengst würde sie niemals nach Sibirien zurückfinden. Außerdem ließ kein Mann ihres Stammes sein Pferd freiwillig in den Händen von Feinden oder Leuten, die ein so edles Tier nicht richtig behandeln konnten.
    Sie trat aus ihrer Kammer und stieg die Treppe hinab. Die übrigen Mitglieder ihrer Reisegruppe ließen sich bereits das Frühstück schmecken. Es gab Brot und kalten Braten, dazu große Krüge mit Kwass und zur Verdauung Wodka. Schirin schob ihren Krug und das Schnapsglas Ilgurs Sklaven Bödr hin, der beides mit sichtlichem Behagen schlürfte. Sie begnügte sich mit einem Stück Brot, das sie am Brunnen mit ein paar Schlucken Wasser hinunterspülte.
    Wanja war ihr ins Freie gefolgt und sah ihr kopfschüttelnd zu. In seinen Augen war Bahadur ein unvernünftiger Knabe, weil er sich im Gegensatz zu den anderen Geiseln immer noch gegen sein Geschick auflehnte, trotz der vielen tausend Werst, die ihn von seiner Heimat trennten. Der Wachtmeister glaubte zwar nicht, dass der Tatar sich in einem unbeobachteten Augenblick auf sein goldfarbenes Pferd schwingen und gen Osten reiten würde, denn er wusste ja,dass sein Stamm dies würde büßen müssen. Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass man bei diesem eingebildeten Prinzlein mit allem rechnen musste. Daher atmete er erleichtert auf, als Sergej und die Dragoner mit den übrigen Geiseln auf den Hof hinaustraten.
    »Heute Abend werdet ihr in Moskau speisen, dem dritten Rom, der Hauptstadt des Zaren!«, rief er stolz aus.
    Die meisten Geiseln starrten ihn nur verständnislos an, denn keiner von ihnen hatte je etwas von dem ersten, geschweige denn von einem dritten Rom gehört, und Moskau war für sie nur ein gefährlicher Ort, an dem sich ihr Schicksal entscheiden sollte.
    Nur zwei der Geiseln interessierten sich für das, was der Wachtmeister über Moskau zu erzählen wusste; Schirin, die hoffte, in Moskau auf den Herrn über alle Russen zu treffen und mit seiner Ermordung ihre Bestimmung erfüllen zu können, und Ilgur, der überlegte, ob er dem Zaren nicht doch seine Dienste anbieten sollte, um sich als mächtiger Wesir irgendwann einmal an seinem Vater und seinen Brüdern zu rächen.
    »Halte keine Volksreden, Wanja Dobrowitsch, sondern mach, dass du diese traurige Gesellschaft in die Sättel bekommst! Sonst sehen wir heute Abend Moskau nur aus der Ferne.« Sergejs Tadel

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