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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Moment schwand seine Sehnsucht nach dem Gestern. Für ihn war der junge Hauptmann beinahe so etwas wie ein jüngerer Bruder, auf dessen Erfolge er stolz sein konnte und auf den er trotzdem ein wenig aufpassen musste. Er lachte bei dieser Vorstellung und sog die Luft tief ein. Es war gute, russische Luft, würzig vom Duft des Waldes und trotz des warmen, spätsommerlichen Wetters erfüllt vonder Vorahnung des Winters, der das Land schon bald unter dickem, kaltem Weiß begraben würde. In Wanjas Phantasie knirschte schon die Schneedecke beim Gehen unter den Füßen, und er glaubte zu fühlen, wie ihm unter den Bäumen Eiskristalle in den Nacken rieselten.
    Der Wachtmeister war so in seine Tagträume verstrickt, dass er Sergejs Antwort beinahe überhört hätte. »Was ist gegen die Reisen von Väterchen Zar einzuwenden? Ist es nicht seine Aufgabe, überall in Russland nach dem Rechten zu sehen? Das haben die Zaren vor ihm viel zu wenig getan, und darum ist bei uns auch alles beim Alten geblieben, während die Reiche im Westen vorwärts strebten und neue Erkenntnisse gewannen.«
    Der Wachtmeister setzte eine abwehrende Miene auf. »Ich weiß nicht, ob es so gut ist, dem Westen nachzueifern, Sergej Wassiljewitsch. Dabei geht zu viel verloren, was gut war in Russland.«
    »Russland ist keine Insel, sondern von vielen Ländern umgeben, die uns feindlich gesonnen sind. Sollen wir demütig die Köpfe beugen und die Schläge hinnehmen, die uns die Schweden versetzen, nur weil wir nicht die Waffen haben, mit denen wir uns zur Wehr setzen können? Sollen wir tatenlos zusehen, wie lutherische Ketzer unsere Kirchen und Basiliken ausrauben und die goldenen Ikonen als Beute in fremde Länder schleppen? Sollen die Prediger der Schweden und die Priester des Papstes ungestraft in unser heiliges Russland eindringen und unseren Glauben zerstören können? Willst du das, Wanja? Sprich!«
    Wanja Dobrowitsch hob beschwichtigend die Arme. »Du hast ja Recht, Sergej Wassiljewitsch! Würde der Zar so reden wie du, ganz Russland jubelte ihm zu! Selbst der Geizigste würde seine Schätze für den Krieg gegen die Ketzer opfern, und jedes Mädchen den Ring, den ihm der Liebste an den Finger gesteckt hat. Ach Sergej, wäre der Zar doch wie du!«
    Wanjas Seufzen brachte Sergej dazu, den Kopf zu schütteln. »Du willst mir Stiefel anziehen, die viel zu groß für mich sind, mein Guter.Ich bin ein Soldat und Offizier, und das ist mehr als das, was ein Mann meiner Herkunft vor den Tagen des jetzigen Zaren hat werden können. Mein Vater hat in seiner Jugend noch die Öfen von Preobraschenskoje geheizt, bis Pjotr Alexejewitsch ihn in seine Knabenarmee aufgenommen und ihn zuletzt zum Sergeanten des Preobraschensker Garderegiments gemacht hat.«
    Damit konnte Sergej seinen Getreuen nicht beeindrucken. Wanja hob die Nase und grinste von oben herab. »Und doch sind Männer von geringerer Herkunft mehr geworden als ein Hauptmann der Rijasanski-Dragoner, Sergej Wassiljewitsch. Denke doch nur an Menschikow. In seiner Jugend hat er noch Piroggen verkauft, und jetzt tritt er auf wie ein ranghoher Bojar.«
    Sergej erinnerte sich gut an den Vertrauten des Zaren, der stets prunkvoll gekleidet war und selbst im heißesten Sommer nicht auf seine an eine Löwenmähne gemahnende Perücke verzichtete. Menschikow war aber auch ein ausgezeichneter Feldherr, dem der Zar Aufgaben anvertraute, von deren Erfolg das Schicksal des Reiches abhing. Gerade jetzt hatte er ihn in die südlichen Provinzen geschickt, um die Aufstände in Astrachan und der Kosakensteppe niederzuwerfen, und Sergej hoffte inständig, dass Menschikow mit diesen Problemen fertig würde, ehe die Schweden vor Moskau auftauchten, denn dort würde der Zar seinen besten General am nötigsten brauchen.

II.
    Die letzte Übernachtung vor dem Einzug in Moskau bestärkte Schirins schlechte Meinung von Russland. Das Einzige, was für die Herberge sprach, war die Tatsache, dass sie eine Kammer für sich allein hatte ergattern können, in der es weder Wanzen noch Läuse gab. Das Essen aber war in ihren Augen ungenießbar. Alles war mit Schweinefleisch versetzt oder in Schweinefett gebacken worden. Selbst das Hühnchen, das der Wirt ihr nach einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel auftischte, schmeckte nach Schwein, und zu trinken musste sie sich draußen am Brunnen holen, denn in der Gaststube wurden nur Kwass und Wodka ausgeschenkt.
    Schirin ekelte es, mit ansehen zu müssen, wie die anderen Geiseln Allahs Gebot

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