Die Tatarin
machte nicht nur dem Wachtmeister, sondern auch den Dragonern Beine. Die Soldaten schienen es zu bedauern, dass sie ihre Gefangenen an diesem Tag zum letzten Mal schikanieren konnten, denn sie trieben sie mit den Kolben ihrer Karabiner an, als müssten sie sich schadlos halten. Einer gab Ostap, der mit dem Fuß am nassen Steigbügel abrutschte und deshalb nicht rasch genug in den Sattel kam, eine schallende Ohrfeige.
Schirin war über diese Ungerechtigkeit so empört, dass ihre Hand unwillkürlich zum Säbelgriff glitt. Noch während sich ihre Finger darum schlossen, fühlte sie einen festen Griff am Handgelenk und hob den Kopf. Sergej war in Bahadurs Nähe geblieben, denn das Mienenspiel des Tataren hatte die in ihm kochende Wut verraten. Nun hatte er ihn sozusagen auf frischer Tat ertappt und konnte dastun, was er schon am ersten Tag in Karasuk vernünftigerweise hätte tun müssen.
»Du wirst Säbel und Dolch jetzt ablegen, denn es ziemt sich nicht, dass du in vollem Waffenschmuck in Moskau einreitest, als wärst du ein Eroberer und kein Gefangener!« Seine Stimme klang hart und verriet Schirin, dass er ihr die Waffen abnehmen würde, ganz gleich, ob sie Widerstand leistete oder nicht. Panik erfasste sie, denn ohne eine Klinge würde sie nicht in der Lage sein, den Zaren zu töten, und sie überlegte, ob sie den Moment nutzen und Sergej erstechen sollte. Aus dem Augenwinkel sah sie jedoch, dass zwei der Dragoner ihre Karabiner auf sie anschlugen, und ließ die Schultern sinken. Die Kugeln der Männer würden schneller sein als ihr Arm, und ganz so sinnlos wollte sie nun doch nicht sterben.
Sergej atmete auf, denn er hatte größeren Widerstand erwartet. Er zog Schirins Säbel und Dolch aus ihren Scheiden und reichte sie Wanja. »Pass gut darauf auf, mein Alter, denn die Waffen sind wertvoll, und wir wollen doch nicht, dass der Tatar uns Russen für Diebe hält.«
Der Wachtmeister schlug beide Klingen in ein Tuch, das er sorgfältig an seinem Sattel befestigte.
Bis Moskau ereigneten sich keine weiteren Zwischenfälle, denn bald war jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt. Es regnete ohne Unterlass, und die Straßen waren so aufgeweicht, dass die Pferde bis über die Fesseln in den schlammigen Untergrund einsanken. Die Tiere wirkten bald ebenso verdrossen wie ihre Reiter, deren Mäntel sich als zu dünn erwiesen, um der Nässe standzuhalten. Die Einzige, die halbwegs trocken blieb, war Schirin, denn sie hatte sich in ihren Lammfellmantel zurückgezogen wie eine Schnecke in ihr Haus, glaubte aber noch darunter die neidischen Blicke ihrer Bewacher und der Geiseln zu spüren. Die Widrigkeiten des Wetters und der Straße dämpften auch während der Mittagsrast die Lust zu Gesprächen, und so verzehrten alle still und in sich gekehrt ein nicht gerade üppiges Mahl. Schirin hatte kaum etwas über die Lippen bekommen, und allmählich begriff sie, dass sie hier in Russland entwederverhungern oder doch irgendwann Schweinefleisch würde essen müssen. Beide Möglichkeiten sagten ihr wenig zu, und sie schalt sich schließlich für ihre Verzagtheit. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr lange genug leben, um verhungern zu können. Sie verstrickte sich so in ihre bitteren Betrachtungen, dass es selbst Ostap, der erbärmlich fror und sich vor dem Kommenden fürchtete, nicht gelang, seinen großen Freund aus dessen Selbstversunkenheit herauszureißen, um Trost bei ihm zu finden.
Sie ritten gerade über einen Hügelkamm, als der Regen schlagartig aufhörte und der Wind die Wolkendecke aufriss. Die tief im Westen stehende Sonne leuchtete noch einmal in voller Pracht auf und tauchte das Land in zauberhaftes Licht. Die erstaunten, ja andächtigen Rufe ihrer Gefährten ließen Schirin aufblicken, und da sah sie Moskau vor sich, überragt von Dutzenden im Sonnenlicht aufglühender Kugeln. Den Russen zufolge handelte es sich um die goldenen Kuppeln, die die Basiliken in der auf einer Anhöhe gelegenen Stadtfestung krönten, die Kreml genannt wurde.
Für einen Augenblick vergaß Schirin über diesem Anblick ihr eigenes Elend und ließ das fremdartige, aber höchst beeindruckende Bild auf sich wirken. Moskau war unglaublich groß und wurde dennoch von einem festen Wall mit zahllosen Wachttürmen umgeben. Das Bollwerk kam Schirin so gewaltig vor, dass sie glaubte, diese Stadt könne niemals von Menschen erobert werden. Die Straße, der sie folgten, führte auf ein Tor zu, das von einem guten Dutzend Soldaten bewacht wurde. Die
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