Die Tatarin
werden. Sie würde die Zeit nutzen müssen, an eine andere Waffe zu kommen, denn sonst würde sie kaum eine Möglichkeit finden, die selbst gewählte Aufgabe zu erfüllen.Nun machte sie sich Vorwürfe, weil sie Sergej mit ihrem Verhalten Grund zum Misstrauen gegeben hatte. Sie hätte freundlicher zu ihm sein und wie die anderen über Wanjas Witze lachen sollen, obwohl sie den Sinn seiner Sprüche zumeist nicht begriff.
Unterdessen war der Gardeoffizier zu der Überzeugung gelangt, dass Sergej sich tatsächlich befehlsgemäß hier eingefunden hatte, und änderte sein Verhalten. »Nichts für ungut, Kamerad! Aber in Zeiten wie diesen muss man auf Deserteure Acht geben. Nicht jeder Soldat oder Offizier hat den Wunsch, sich mit den Schweden zu messen.«
Sergej dachte an Oberst Jakowlew in Ufa, der gewiss nicht zu jenen zählte, die eine Schlacht mit den Schweden herbeisehnten, und nickte ernst. »Das verstehe ich gut, Leutnant. Aber bei mir ist es gewiss nicht so. Ich habe seit Narwa noch eine Rechnung mit jenen zu begleichen, die sich Löwen aus Mitternacht nennen.«
Um die Lippen des Gardeoffiziers spielte ein spöttisches Lächeln. »Du gehörst wohl auch zu den Männern, die damals die Füße in die Hand genommen haben und gerannt sind, als seien sämtliche Teufel hinter ihnen her?«
»Da ich gesund und munter hier stehe, habe ich schnell genug rennen können.« Sergej hatte beschlossen, den Spott des anderen an sich abtropfen zu lassen, und fragte ihn, wo er mit seinen Dragonern und den Geiseln Quartier nehmen sollte.
»Da die meisten Truppen auf Befehl des Zaren Moskau verlassen haben, um den Schweden entgegenzuziehen, findet ihr überall Platz. Doch ich halte es für besser, wenn du mit deinen Geiseln im Kreml bleibst, und werde einem meiner Männer befehlen, euch zu den Unterkünften der Wache zu bringen.« Der Gardeleutnant wollte sich schon abwenden, als Sergej sich an Jakowlews Brief erinnerte, den er überbringen sollte.
»Eine Frage noch, Kamerad. Weißt du zufällig, ob sich Major Grigorij Iwanowitsch Lopuchin in der Stadt aufhält?«
Die Miene des Gardeleutnants wurde auf einen Schlag so freundlich, als wären sie alte Freunde. »Gewiss tut er das, Sergej Wassiljewitsch!Er ist unser Kommandant. Wenn du mir sagst, was du von ihm wünschst, werde ich ihn umgehend informieren.«
Sergej schüttelte den Kopf, denn er wollte nicht, dass zu viele Leute von dem Brief erfuhren, der für den Major bestimmt war. Nach allem, was er an Gerüchten gehört hatte, zählte Grigorij Iwanowitsch Lopuchin zu jenen Männern, die den Zaren gestürzt und den Zarewitsch an seiner Stelle sehen wollten, denn er war ein Vetter der Gemahlin des Zaren – oder vielmehr der früheren Gemahlin, denn Pjotr Alexejewitsch hatte sich von Jewdokija Lopuchina getrennt und sie in ein Kloster sperren lassen. Dadurch war der Einfluss der Lopuchins im Reich geschwunden, und die Familie würde erst dann ihre alte Stellung zurückgewinnen, wenn Jewdokijas Sohn Alexej seinem Vater auf Russlands Thron nachfolgte.
»Richte bitte dem Major aus, ich würde ihn in den nächsten Tagen aufsuchen.« Sergej nickte dem Leutnant zu und trieb seinen Braunen mit einem Zungenschnalzen an. Sein Trupp folgte ihm im Gänsemarsch, und nun lernte Schirin die Keimzelle des Russischen Reiches kennen, die zugleich ihr heiligster Ort war. Ihr Weg führte jedoch nicht zu den Palästen und Basiliken mit den goldenen Kuppeltürmen, sondern zu einem länglichen Gebäude ohne besonderen Schmuck, das als Pferdestall und Unterkunft für die Soldaten diente.
Ein eifrig herbeiwieselnder Quartiermeister empfing die Gruppe und ließ sich von Sergej über dessen Auftrag berichten. Dabei warf er einen abwägenden Blick über die Geiseln und schüttelte zuletzt den Kopf. »Seine Hoheit, der Zarewitsch, wird die Leute sehen wollen. Doch so zerlumpt könnt Ihr sie ihm nicht vorführen. Sie brauchen neue Kleidung und müssen sich auch waschen. Die stinken ja wie Ziegenböcke.«
Schirin empfand die Bemerkung als Beleidigung, denn sie hatte sich auf dem langen Ritt stets sauber gehalten. Einige der anderen Geiseln hatten der körperlichen Hygiene jedoch weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt und rochen tatsächlich sehr unangenehm.
Sergej dehnte die Schultern. »Oh ja. Ich hätte nichts gegen ein heißes Schwitzbad, denn das Wetter war heute etwas arg klamm.«
»Das Bad ist angeheizt, und die Birkenzweige liegen bereit«, erklärte der Mann beflissen und wies einige Knechte
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