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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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verspeiste.
    Schirin begriff, dass es sich um besonders große und etwas grotesk aussehende Muscheln handelte, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Flussmuscheln aufwiesen, die sie und die anderen Mädchen in den flachen Ufergewässern der Steppenströme gesammelt hatten. Sie öffnete ebenfalls eine Auster und fand sie durchaus wohlschmeckend. Der Lachs war ebenfalls ausgezeichnet, und der Kaviar schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Langsam fühlte sie sich satt und konnte daher mit einem Lächelnabwinken, als die Diener mit einer Platte voller gebratener Schweinekoteletts auftauchten.
    Wanja hatte nach Schirins Meinung schon so viel in sich hineingestopft, dass er beim nächsten Bissen platzen musste, und doch brachte er es fertig, drei Koteletts zu vertilgen und mit mehreren Gläsern Wodka hinunterzuspülen. Danach stieß er geräuschvoll auf und blickte die anderen zufrieden an. »So lasse ich mir das Leben gefallen!«
    Sergej grinste ihn an. »Du wirst schon bald wieder den normalen Armeefraß vorgesetzt bekommen.«
    Diese Aussicht konnte die gute Laune seines Wachtmeisters nicht trüben. »Auch der wird die Erinnerung an dieses herrliche Mahl nicht wegwischen können. Mir hat es auch gestern Abend ausgezeichnet geschmeckt, vor allem der Wodka.«
    Schirins Blick wanderte suchend durch den Raum, dessen lange Tischreihen Platz für mehr als einhundert Menschen bot. Auch hier gab es Bilder an den Wänden, allerdings nicht so viele wie in Menschikows Festsaal, und anstelle nackten Fleisches waren hier goldgeschmückte Ikonen zu sehen. Die Kristalllüster wiesen etwas bescheidenere Ausmaße auf, ebenso der Figurenschmuck in den Wandnischen. Schirin gefiel es hier besser, die Einrichtung wirkte nicht so aufdringlich und schamlos, und sie stellte sich für einen Augenblick vor, wie es wäre, in einem solchen Haus zu leben. Sie vertrieb diesen Gedanken jedoch rasch wieder. Sie war ein Kind der Steppe und konnte sich nur in einer Jurte wohl fühlen.
    »Was machen wir heute Nachmittag?«, fragte Ostap, der diese seltsame Stadt genauer anschauen wollte. Im Unterschied zu Moskau, in dem sie den abgeschlossenen Kreml nicht hatten verlassen dürfen, wirkte Sankt Petersburg trotz seiner Inseln und Kanäle luftiger und freier zugänglich.
    Wanja klopfte auf seinen gut gefüllten Bauch. »Also, ich würde jetzt gerne ein kleines Verdauungsschläfchen halten, wenn nichts dagegen steht.«
    »Von meiner Warte aus nicht«, antwortete Sergej, der kurz überlegte, ob er Bahadur und Ostap auffordern sollte, mit ihm durch die Stadt zu streifen. Bevor er jedoch zu einer Entscheidung kam, wurde die Tür geöffnet, und ein junger Offizier trat herein. Sergej kannte ihn nicht, doch dem Abzeichen auf seiner Uniform zufolge musste er der Marine angehören. Er blieb vor Sergej stehen und salutierte zackig.
    »Leutnant Pribjew meldet sich zur Stelle, Hauptmann. Seine Majestät, der Zar, will Euch und Eure sibirischen Gäste in Kürze sehen.«
    »Dann sollten wir das Väterchen nicht warten lassen.« Wanja sagte seinem Verdauungsschlaf Ade und stand auf. Sergej nickte zustimmend und befahl ihm, die übrigen Geiseln zu suchen.
    Pribjew salutierte erneut. »Mit Verlaub, das wird nicht nötig sein. Hauptmann Kirilin hat bereits den Rest der Geiseln abgeholt.«
    »Dieser Kirilin maßt sich verdammt viel an«, murmelte Wanja leise vor sich hin.
    Das Gleiche empfand auch Sergej. In Sibirien war Kirilin ein Störenfried gewesen, den er jedoch hatte ignorieren können, aber seit der Mann zur Garde des Zarewitschs gehörte, machte er sich unerträglich wichtig. Da Sergej an dieser Situation nichts ändern konnte, zuckte er mit den Schultern und forderte Bahadur und Ostap auf, mit ihm zu kommen. »Beeilt euch! Pjotr Alexejewitsch wartet nicht gerne.«
    Schirin zog ihren Mantel so zurecht, dass die Löcher und Risse darin nicht so auffielen, und legte die linke Hand auf den Säbelknauf.
    »Ich bin bereit, Hauptmann Tarlow.«
    »Sag Sergej zu mir, Bahadur, denn seit gestern sind wir Waffengefährten.«
    Schirin fasste seine Worte als Erinnerung auf, dass er ihr das Leben gerettet hatte, und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Mit dieser Schuld würde sie bis ans Ende ihre Tage leben müssen.

VIII.
    Pjotr Alexejewitsch erwartete sie bei der Fährhütte, an der sie ein paar Tage zuvor ihre Pferde hatten abgeben müssen. Schirin reckte den Kopf in der Hoffnung, Goldfell entdecken zu können, doch das Einzige, was es zu sehen gab,

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