Die Teeprinzessin
fühlte seine Hand an ihrer Wange und hörte nur ihren eigenen Herzschlag. »Nein«, sagte sie leise.
»Sie schweigen«, sagte Francis. »Wenn sie das tun, haben sie genau den richtigen Welkungsgrad erreicht, sie sind weich, aber noch nicht trocken. In dem Fall würden sie nämlich rascheln. Diese Teeblätter aber leben. Und schauen Sie nur hier!« Er hielt ein weiteres gewelktes Teeblatt in seiner Hand und rollte es langsam auf. »Ein gewelktes Teeblatt kann man zweimal knicken oder auch rollen, mit einem frischen oder trockenen würde das nicht gehen.« Er führte sie langsam zu einer Innentreppe, die zur nächsten Etage hinunterführte. Er blieb stehen, und Betty kam es so vor, als wolle er etwas sagen, habe es sich aber anders überlegt. Betty hatte auf einmal das eigenartige Gefühl, dass er etwas vor ihr verbarg.
»Das Welken eines Teeblattes kann man nicht beschleunigen.« Er war stehen geblieben und sah sie an. »Deshalb verläuft das Leben in den Gegenden, in denen Tee angebaut wird, mit einer ganz besonderen Ruhe. Alles geschieht seit Jahrhunderten im selben Rhythmus. Wenn das Tageslicht abnimmt, schlägt einer der Arbeiter den Gong, dann kommen die Pflücker zusammen, und die Blätter werden zum Welken auf den Sieben ausgebreitet. Die Blätter welken immer genau eine einzige Nacht lang. Niemals länger, niemals geht es schneller. Das ist überall gleich, in China, in Java, in Assam und auch hier in
Darjeeling. Am nächsten Morgen ist alles bereit für die nächsten Schritte. Man kann es nicht beschleunigen, sonst würde man alles verderben. Verlangsamen sollte man es aber auch nicht.«
Betty fragte sich, ob er ihr damit etwas Bestimmtes sagen wollte. Aber was? »Ist das ein Bild für irgendetwas? Wenn ja, dann verstehe ich es nicht ganz. Was wollen Sie mir damit sagen, Francis?« Sie war selbst überrascht, wie unsicher ihre Stimme auf einmal klang.
»Ihr Tee wird morgen Abend fertig sein, aber auch nicht früher. Das wollte ich damit nur sagen.« Er drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. »Kommen Sie bitte mit, es ist Zeit für den Lunch, den ich gern mit Ihnen einnehmen würde. Später können wir uns dann um Ihren Tee kümmern. Heute Abend habe ich leider eine wichtige Verabredung unten im Gymkhana-Club, die ich zu meinem Unglück nicht absagen kann. Ich werde auch die nächsten drei Nächte in der Residenz der Campbells übernachten müssen. Ich habe geschäftliche Termine, und der Weg ist zu beschwerlich, um jedes Mal wieder hier heraufzufahren. Ich habe Sikki Bescheid gesagt, sie wird Ihnen heute Abend beim Abendessen in Ihrem Hause Gesellschaft leisten und Dayun wird Sie während der kommenden drei Tage bewachen wie einen Schatz.« Er lächelte liebevoll. »Ich freue mich jetzt schon sehr, Sie in drei Tagen wiederzusehen. Die Zeit wird mir furchtbar lang werden. Vielleicht machen wir dann gleich einen Ausflug zum Observatory Hill, wenn ich rechtzeitig wieder hier bin, denn man muss noch vor der Dämmerung dorthin aufbrechen. Der Sonnenaufgang dort ist wunderschön.« Er zögerte. »Auch wenn nichts sich mit Ihrer Schönheit messen kann!«
Betty versuchte, das Kompliment zu überhören. Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Gestern erst war sie angekommen - und schon musste Francis wieder weg?
Der Garten der schlafenden Prinzessin lag bereits in tiefem Schatten, als Betty und Francis am späten Nachmittag ihr Haus erreichten. Das Licht über den Hügeln hatte einen goldenen Schimmer angenommen. Auf den Stufen zu ihrem Haus wartete Sikki auf sie. Sie stand ruhig da, fast wie eine Statue im Hintergrund.
Am liebsten hätte Betty Francis am Ärmel gepackt und festgehalten. »Ist es wirklich wichtig, das Abendessen im Club, zu dem Sie müssen?« Betty biss sich im gleichen Augenblick auf die Lippen.
Francis nickte. »Ja, das ist es. Der Vizekönig von Indien, Earl Campbell, hat einen Haufen seiner adeligen Freunde eingeladen und ein paar Leute, denen er vertraut. Es ist informell, daher findet es nicht in seiner Sommerresidenz statt. Er ist ein versöhnlicher Mann, ich mag ihn und schätze seine politischen Ansichten. Wegen des frühen Wärmeeinbruchs ist er schon jetzt aus Kalkutta heraufgekommen. Das Klima dort setzt ihm sehr zu, und man sagt, dass seine Frau ebenfalls gesundheitlich angegriffen sei und sich hier erholen müsse. Sie sollen beide an Malaria erkrankt sein. In Kalkutta werden viele Europäer von den Mücken gestochen. Darjeeling hingegen liegt über der Fiebergrenze.
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