Die Teeprinzessin
eine geringe Gegenleistung. Sie hatte etwas bekommen und würde es nun wieder loslassen. War es das, was Francis als typisch indisch empfand? War das der Rhythmus, von dem er gesprochen hatte? Wenn es weiter nichts war! Sie konnte sich leichten Herzens von allem abwenden, was zuvor gewesen war!
Der Mond war ein Stückchen weitergewandert, so als wolle er ihre Erinnerungen an den Vorabend nun nicht mehr beleuchten. Der Tee war eine Handelsware, durch die sie endlich frei werden würde. Sie wälzte sich auf die andere Seite des Bettes. Es würde gut sein, noch ein wenig zu schlafen.
Doch wurde das Licht draußen nicht plötzlich voller? Ob Francis bereits zurückgekommen war und in seinem Haus die Lichter anzünden ließ?
Betty rollte an die entgegengesetzte Bettkante und spähte hinaus. Die Umrisse ihrer weichen weißen Seidenschuhe konnte sie nach wenigen Momenten erkennen. Was hatte Sikki ge sagt, solle man damit tun? Sie ausschütteln? Wegen der Skorpione. Wie übertrieben! Betty nahm einen der Schuhe hoch und klopfte ihn vorsichtig auf ihre Handfläche. Da war nichts. Sie zog ihn über ihren nackten Fuß. Wie kühl sich der Stoff anfühlte. Sie angelte nach dem anderen Seidenschuh und wollte ihn gerade ebenfalls über ihrer Hand ausklopfen, als ein gekrümmter, fingerlanger schwarzer Schatten herauskroch und sich eilig auf den Weg unter ihr Bett machte. Sie erstarrte.
Wie lange hatte sie in dieser Position ausgeharrt, mit dem einen Schuh am Fuß und dem anderen in der Hand? Drüben im Haus auf der anderen Seite des Gartens schienen weitere Lichter angezündet zu werden. Sie betastete den Schuh vorsichtig und kam zu dem Schluss, dass er nun leer war. Dann schwang sie sich aus dem Bett.
Der blaue Sari hing im vorderen Teil ihres Ankleidezimmers und genau im Streifen des Mondlichtes. Sie schlüpfte aus ihrem Nachtgewand und konnte ihren Körper einen Augenblick lang in dem großen handgetriebenen Spiegel sehen, bevor sie die Augen wieder niederschlug. Obwohl sie insgesamt viel schlanker war als vor der Zeit in Hamburg, sah ihr Busen nun voller aus. Die Leibchen, die sie mithatte, und die beiden einfachen Mieder waren ihr schon auf der langen Schiffsreise atemberaubend eng erschienen. Als junger Mann jedenfalls konnte sie sich fortan nicht mehr verkleiden. Ob es in Kalkutta einen Miedermacher gab, bei dem sie einige neue Stücke anfertigen lassen konnte? Mit wem konnte sie das besprechen?
Sie hatte die leichten seidenen Hosen und den leichten Unterrock bereits übergestreift und, ohne lange nachzudenken, die Arme durch die Ärmel der Bluse gesteckt. Wenn man einmal davon absah, dass sie kaum ihren Busen und nur ein kleines Stückchen Bauch bedeckte, passte sie perfekt. Die vielen kleinen Knöpfe an der Vorderseite schlossen sich fast von selbst, und wie Sikki gesagt hatte, konnte sich der Busen darunter leicht bewegen, ohne dass das Ganze sich lose anfühlte oder wie ein Nachthemd.
Betty ergriff die lange Stoffbahn des Saris, legte sie sich um den unteren Rücken und hielt beide Enden in den Händen. Wie hatte Sikki den Sari noch gewunden? Sie hatte vorn ein paar Falten gelegt und im Unterrock festgesteckt, eine weitere Bahn um den Körper geschlungen, wieder Falten geschlagen und die letzte Bahn über die linke Schulter geworfen, sodass ein langer Teil hinten bis in Höhe der Oberschenkel hing. Dann wurde der Sari auf der Schulter festgesteckt und war fertig.
So matt das Mondlicht auch in ihren Ankleideraum schien, so hatten sich ihre Augen nun doch gut an das Dunkel gewöhnt. Als Betty ihrer selbst im Spiegel gewahr wurde, unterdrückte sie einen Schrei. War sie das wirklich? Konnte ein einfaches Kleidungsstück wie diese Stoffbahn einen Menschen derartig verändern? Sie nahm ihre blaue Haarspange aus der Schale vor dem Spiegel, scheitelte ihre Haare mit ihrem Silberkamm und steckte sie mit der Spange schlicht zurück. Sah sie jetzt wie eine Inderin aus? War es nicht unangemessen und eitel, sich selbst so schön zu finden? Vielleicht lag es weniger an ihr als an dem wunderschönen Stoff? Er schien um ihren Körper herum zu schweben und kühlte und wärmte sie zugleich. Sie wünschte sich glühend, dass Francis sie so sehen könnte. Er würde nicht anders können, als sie zu umarmen, da war sie sich ganz sicher. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. Der Lichtschein drüben bei Francis war erloschen. Ob er doch noch nicht nach Hause gekommen war?
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