Die Teeprinzessin
Aus- und Wiedereinwickeln.
Betty hielt sich die kleine Bluse, die zu ihrem Sari gehörte,
an den Körper. »Es schickt sich nicht, mit bloßen Armen und einem nackten Bauch herumzulaufen!« Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, in einem Sari durch ihr Zimmer zu spazieren, geschweige denn, es derart gewandet zu verlassen.
Die kleine Bluse konnte unmöglich jemandem von ihrer Größe passen. »Gehört dazu nicht noch ein Mieder? Oder wenigstens ein Leibchen und ein Hemd? Man kann doch nicht einfach so...«, mit der Brust herumschwingen, dachte sie, traute sich aber nicht, es zu sagen.
Sikki schien trotzdem genau zu verstehen, was sie meinte. »Viele Frauen aus Europa können sich zuerst nicht mit der Kleidung unserer Frauen anfreunden. Aber dann probieren sie sie doch einmal aus und stellen fest, dass es die Brust wunderschön festigt, wenn man ihr gestattet, sich etwas zu bewegen.« Sikki bemühte sich, weitere Vorteile des Saris aufzuzählen. »Es fühlt sich wunderbar frei an. Und würdevoll zugleich. Mister Jocelyn trägt übrigens auch indische Kleidung, wenn er hier ist«, erklärte Sikki. »Obwohl er ja eine chinesische Mutter und einen englischen Vater hat. Das Gewand der Herren nennt man die Kurta Pajama, es ist bei den Europäern immer ein knielanger Gehrock aus einem schweren Brokat und eine lange weite Hose. Die Männer, die in England erzogen wurden, tragen meist weiße Brokatjacken, wenn sie unsere indische Kleidung bevorzugen. Daran kann man sie erkennen. Sie haben Mister Jocelyn ja gestern darin gesehen.« Sie verdrehte schwärmerisch die Augen. »Wenn seine Haut nur ein wenig dunkler wäre, könnte er selbst fast ein Inder sein.«
Betty nickte. »Ja, ich habe ihn gesehen.« Sie fragte sich, ob es jemals wieder einen Augenblick geben würde, an dem sie nicht an ihn dachte. Die bauchfreie Bluse aber kam für sie dennoch nicht infrage. »Ich möchte doch lieber eines meiner leichten Sommerkleider tragen.«
»Wie Sie wollen, Miss!« Sikki lächelte wie stets, ihr war nicht der Hauch einer Enttäuschung anzumerken. »Aber nun müssen wir uns mit dem Anziehen beeilen, Dayun wartet drau ßen auf Sie. Er wird Sie zu Mister Jocelyn in den Teegarten bringen. Es ist ein langer Weg.«
Es war das erste Mal, dass sie das Haus, das hier alle als das Ihre bezeichneten, bei Tageslicht sah. Von der großen kühlen Halle gingen mehrere raumhohe Türen in unterschiedliche Empfangsräume ab, die - wie Sikki erklärte - alle in den Tönen gehalten waren, die der Himmel von Darjeeling annehmen konnte. So gab es einen Wintersalon, in dem die großen weichen Brokatsofas und die Portieren in verschiedenen Weißtönen strahlten, einen Saal der Nächte mit schwarzgrün lackierten Wänden, sterngoldenen Tischchen, dunkelgrünen Sesseln und mannshohen goldenen Kandelabern und ein Sturmzimmer mit flammend gelben Möbeln und orangeroten Wänden, die mit dicker Seide bespannt waren. Am meisten angetan aber war Betty von dem Morgensalon, der ganz in zartem Rosa und fahlem Grün gehalten war und in dem alle Stoffe mit winzigen Knospen verschiedenster Blumen bestickt waren. Ihr Schlafzimmer hieß das Zimmer der schlafenden Prinzessin, es war als einziges nicht mit indischen, sondern mit chinesischen Seiden ausgestattet und, wie es hieß, schimmerte es zu jeder Tageszeit in einem anderen Grünton.
Als sie ins Freie traten, stand Dayun bereit. Er hatte eine kleine Tonga anspannen lassen. Dieses Mal allerdings lag kein Gepäck darauf und so fand Betty die zweirädrige Kutsche mit einem Mal recht bequem. Dayun selbst führte sie. Betty lächelte, als sie des Pferdes gewahr wurde. Es war ein schöner, stolzer Rappe, der für gewöhnlich bestimmt geritten wurde und dem man es ansah, dass es eigentlich unter seiner Würde war, eine Kutsche zu ziehen. Aber unter dem sanften Befehl von
Dayun setzte er sich dann doch geschmeidig in Bewegung und schien sich sichtliche Mühe zu geben, die Kutsche gleichmäßig zu ziehen. Das war etwas ganz anderes als die holprige tagelange Tour den Berg hinauf.
Betty blinzelte in die Sonne und freute sich, dass man auch heute hinter den steilen grünen Hängen wieder die Gipfel der schneebedeckten Berge des Himalaya sah.
3
Francis erwartete sie bereits am Eingang des Teegartens. Er sah ihr entgegen, als sie aus dem Tonga ausstieg, und Betty spürte, dass er sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Auch Dayun schien es zu bemerken. Jedenfalls wandte er sich dezent ab und auch die Arbeiterinnen
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