Die Teeprinzessin
Vielleicht hatte ja ein Diener Licht gemacht. Sie blinzelte. Da bewegte sich eine Gestalt im Garten! Zuerst konnte sie sie nicht erkennen, dann aber sah sie, dass es ein Mann war, der durch den Garten ging, geradewegs auf ihr Haus zu. Ein großgewachsener Mann mit aufrechtem Gang. Es war Francis! Er hatte es auch nicht länger ohne sie ertragen, und kein Zweifel, nun war er auf dem Weg zu ihr! Sie würde ihm entgegengehen.
Mit einem Sprung war sie bei der Tür. In solch einem Sari war es leicht, sich zu bewegen, viel leichter als in ihrer europäischen Kleidung. Und beschwingt fühlte sie sich! Sie öffnete lautlos die Tür und schlüpfte hindurch. Von Dayun war zum Glück nichts zu sehen. Von Sikki hatte sie gehört, dass er nahezu überhaupt keinen Schlaf benötige, wie alle Wushu-Krieger aus der Schule der sieben Tiere, wie sie sich nannten.
Betty huschte weiter. Vor ihrem Zimmer lag ein Kuli in tiefem Schlaf. Sein Kopf war nach hinten an die Tür gesunken, und obwohl er in der Hocke saß, schien er tief zu schlafen und dabei sogar leicht zu schnarchen.
Das Hauptportal war schon etwas schwieriger zu öffnen. Betty schlüpfte durch den kleinstmöglichen Spalt und hoffte, dass sie den Garten erreichen würde, bevor Francis seinerseits hier ankam. Sie würde ihn gern in der Mitte zwischen ihren Häusern treffen.
Die Kühle der breiten Treppe vor ihrem Portal drang sogar durch ihre Schuhe hindurch. Ein leichter Wind bauschte ihr Gewand auf. Francis war nicht mehr zu sehen. Hatte er geahnt, dass sie käme, und wartete er vielleicht in der Mitte des Gartens in der Nähe der Orchideen auf sie? Sie hielt sich dicht unter den Magnolien, deren Schatten unruhig im Nachtwind
umhertanzten. Da hörte sie plötzlich seine Stimme. Der weiche Ton traf sie mitten ins Herz. Hatte er sie schon entdeckt? Flüsterte er ihr etwas zu? Aber in welcher Sprache sprach er? Er musste ganz in der Nähe sein. Betty duckte sich und schlich weiter voran.
Sie hörte sie, bevor sie sie sah. Es war eine zweite Stimme, es war die Stimme einer Frau. Sie trug einen hellgelben Sari und ihr langes schwarzes Haar schimmerte im Mondlicht. Francis stand direkt vor ihr. Da streckte er plötzlich die Arme aus und berührte diese Frau. Betty sah, wie sie ihn anschaute und ihm dann in die Arme fiel. Sie umarmten einander. Es war eine wunderschöne Frau, und Betty spürte, dass sie sie kannte, bevor sie wusste, wer es war: Ava, das schöne Mädchen, das sie in Kalkutta kennengelernt hatte. Konnte es sein, dass Ava sogar schluchzte? Francis murmelte etwas, anscheinend, um sie zu trösten, und Ava flüsterte mit tränenerstickter Stimme zurück. Nach einer Weile lösten sie sich plötzlich voneinander und gingen gemeinsam ins Haus.
Betty kauerte unter der Magnolie und hätte am liebsten aufgeschrien. Es dauerte lange, bis die Tränen kamen. Nach einiger Zeit sah sie, wie zwei Diener das schwarze Pferd vor das Haus brachten. Gleich darauf verließen Francis und Ava das Haus. Francis stieg in den Sattel und zog Ava hinter sich. Sie klammerte sich an ihm fest. Dann fiel das Pferd in einen schnellen Galopp und verschwand in der Nacht.
5
In ihrem Zimmer war es warm. Betty lag mit offenen Augen da und horchte auf die Geräusche, die aus dem Garten zu ihr drangen. Irgendwann fiel sie mit flatternden Lidern in einen
unruhigen Schlaf. Sie träumte, sie führe auf einem Schiff. Es wurde eben hell. Im Haus war noch alles ruhig. Von draußen drang feuchter Morgennebel durch die Fensterläden.
Als sie wieder aufwachte, kam Sikki leise in ihr Zimmer und deckte Betty wieder zu. »Sie müssen noch nicht aufstehen, Miss. Schlafen Sie einfach weiter. Mister Jocelyn hat eben eine Nachricht überbringen lassen, um Ihnen zu sagen, dass Sie leider heute bei Sonnenaufgang keinen gemeinsamen Ausflug zum Observatory Hill machen können. Mister Jocelyn ist in einer äußerst wichtigen Angelegenheit verhindert. Er wird für einige Tage verreisen müssen. Dayun begleitet ihn. Mister Jocelyn lässt Sie grüßen. Alle Wünsche sollen Ihnen erfüllt werden.« Sikki stopfte die Seiten der Bettdecke unter ihrem Körper fest, wie bei einem Kind. »Und nun schlafen Sie noch etwas und träumen Sie gut.«
»Nein!« Betty war so abrupt hochgeschnellt, dass Sikki erschrocken zurückfuhr. »Ich brauche eine Tonga, nein, die Pferde für drei Tongas sollen eingespannt werden. Mein Tee soll aufgeladen werden. Ich reise ab!«
Sikki rang die Hände. »Aber wo wollen Sie denn um diese Zeit hin? Und
Weitere Kostenlose Bücher