Die Teeprinzessin
seinen Atem riechen, und dass er kein Fleisch aß.
Sikki stieß Betty mit dem Ellenbogen an.
»Nein, die Haare sind nicht geschnitten«, entgegnete Betty
geistesgegenwärtig. »Ich bin Ausländerin. Meine Haare sind immer so gewachsen, wie es Gottes Wille war.« Sie zögerte. »Und die meiner Freundin ebenfalls.«
»Freundin?«, fragte Pei und spitzte den Mund. »Nicht Dienerin? Eine Dienerin zu haben ist im Reich der Taiping verboten. Vor Gott sind alle Menschen gleich, jedenfalls alle, die sich den Rebellen des Taiping anschließen. Unser Befehlshaber auf Erden ist Hong. Wer das nicht respektiert, der verdient die Todesstrafe!« Er zögerte. »Sind Sie dem Kaiser von China in Treue ergeben?«
»Nein, diesen Herrn kenne ich überhaupt nicht.« Betty spürte, dass Sikki neben ihr erstarrte.
Pei überlegte und schien sich endlich mit ihrer Antwort zufriedenzugeben. »Geschnittene Stirnhaare tragen nur Huren. Auf Prostitution steht die Todesstrafe. Künstlerinnen tragen ihre Haare auch so. Gott sagt, du sollst dir kein Bildnis machen. Darauf steht ebenfalls die Todesstrafe.« Er plumpste erschöpft in seinen Sessel. »Sie bekommen die Todesstrafe wegen Diebstahls. Aber nicht heute. Zu viel zu tun!« Er wedelte gelangweilt mit der Hand und ein anderer Krieger erschien und wollte Betty eben am Handgelenk hinausführen. »Einen Augenblick noch!«, blaffte Pei. »Beim nächsten Mal auf die Knie gehen und den Kopf senken, wann immer ein Taipingkrieger vorbeikommt. Wenn nicht, ist das eine schwere Beleidigung der Taiping.«
Der Raum, in den sie geführt worden waren, erstreckte sich über die ganze erste Etage, und auch er hatte kaum Stehhöhe. Der Boden war mit Stroh ausgelegt. An die in die Wand eingelassenen Eisenringe waren ausschließlich weibliche Gefangene angekettet. Wo die männlichen Verbrecher untergebracht waren, konnte man an den heiseren Schreien hören, die aus den Kellern drangen und über den Hof schallten. Betty und Sikki
wurden die Handfesseln wieder angelegt, dann näherte sich ein Wärter und schloss sie mit dicken Eisenketten an die Wand an. Kaum eine der anderen Frauen beachtete die beiden Neuankömmlinge. Viele von ihnen starrten apathisch vor sich hin, andere dösten mit an die Wand gelehntem Kopf oder sie wimmerten leise vor sich hin.
»Seid ihr Engländerinnen?«
Betty hob den Kopf und sah eine junge Frau, deren Stirnhaare nicht nur kurz geschnitten, sondern zudem noch rot gefärbt waren. Das ovale Gesicht war weiß geschminkt, die grellrote Lippenfarbe um den Mund herum verlaufen. Betty schüttelte den Kopf.
»Für Liebesdienerinnen seid ihr zu wenig elegant und für Diebinnen seht ihr nicht unauffällig genug aus. Was also habt ihr getan, dass die Taiping euch nicht mögen? Habt ihr euch zum Kaiser bekannt? Oder zu den Briten und Franzosen?«
»Wir haben nur versucht, unser Eigentum zurückzubekommen. Mehr als zwei Dutzend Kisten mit Tee, die mir von Piraten gestohlen wurden. Eine davon habe ich hier auf dem Markt wiedergefunden.«
Die junge Frau seufzte und blickte an die niedrige Decke, auf der soeben ein Gecko entlanghuschte. »Dann wundert es mich, dass ihr hier sitzt und nicht in einem Verlies der Teemafia. Die Weißen Tiger können es nicht ertragen, wenn außer ihnen noch jemand mit Tee handelt.« Sie stockte. »Daher kooperieren fast alle Teehändler mit ihnen und geben ihnen Schutzgelder. Niemand hat die sieben Weißen Tiger je gesehen, aber man sollte sich nicht mit ihnen anlegen. Am gefährlichsten aber ist der achte von ihnen, Bajung, ihr Boss. Er ist eine Legende. Es heißt, dass sterben muss, wer ihn erblickt. Ihr könnt also froh sein, dass ihr bei den Taiping sitzt und nicht bei den Wei ßen Tigern. Die Taiping lieben wenigstens das Volk. Sie sind
gegen die korrupten Beamten des Kaisers, und sie wollen den Menschen helfen, die hungern. Die Teemafia dagegen ist nur auf Gewinn aus. Die Weißen Tiger sollen überdies äußerst brutal sein und ihre Strafen sofort vollstrecken. Es heißt, dass sie ohne Blutvergießen arbeiten, daher ihr Name. Sie können ihre Opfer mit bestimmten Griffen töten, deren Spuren man nicht mehr sieht. Sie töten alle ihre Feinde.«
»Und das machen die Taiping nicht?« Betty fühlte einen Kloß in ihrer Kehle.
Die junge Frau verneinte. Sie selbst zum Beispiel säße schon mehr als vier Monate hier, und bislang habe niemand sie zur Kenntnis genommen, weil die Machthaber der Taiping in anderen chinesischen Landstrichen zu tun hätten und die
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