Die Teeprinzessin
auf der anderen Seite und zu Bettys großer Verwunderung schien niemand sie daran hindern zu wollen, mit dem Paket ihrer Wege zu gehen. Schon breitete sich ein Gefühl des Triumphes in ihr aus. In ihrem Rücken skandierte die Menge irgendetwas, so als ob gezählt würde. Dann spürte sie plötzlich, wie sich zwei Eisengriffe um ihre Fesseln schlossen und wie ihre Füße unter ihr weggezogen wurden. Das Teepaket plumpste zu Boden. Bettys Tragebeutel rutschte von ihrer Schulter und ihr Geldbeutel, ihre beiden Tücher und die Brosche fielen heraus und in den Schmutz.
Neben ihr fiel Sikki in den Staub. »Das ist wie bei uns zu Hause«, flüsterte Sikki. »Ein Dieb ist man erst, wenn man mit dem Gegenstand zehn Schritte weit fort ist. Und ich dachte, sie würden uns entkommen lassen. Aber seien Sie unbesorgt. Ich werde alle Schuld auf mich nehmen.«
»Mund halten!«, rief eine grelle Stimme. Dann spürte Betty, wie ihr ein stinkender Knebel in den Mund geschoben und festgebunden und wie ihr Hände und Füße verschnürt wurden. Jemand sammelte ihr Hab und Gut ein und hängte ihr den Tragebeutel um den Hals. Die Menge johlte.
3
War das Gasthaus ohne Namen in Kanton schon nicht mehr als ein stinkendes Loch gewesen, so stellte das Gefängnis eine Steigerung dar, wie Betty sie sich zuvor nicht hatte vorstellen können. Nachdem sie wie Vieh auf einen schmalen Wagen verladen und von zwei Kulis durch die halbe Stadt gezogen worden waren, erreichten sie ein lang gestrecktes graues Gebäude mit umlaufenden Balkonen und geschlossenen Fensterläden. Betty blinzelte und sah, dass zwei langhaarige Chinesen in roten Jacken und blauen Hosen vor dem Gebäude Wache standen und nun langsam näher kamen. Sikki neben ihr begann schneller zu atmen. »Das müssen Taipingkrieger sein. Nimm dich in Acht vor ihnen, es heißt, sie kontrollieren schon den ganzen Süden Chinas und sie wollen das Kaiserreich zerstören.« Sikki verstummte mit einem Schmerzenslaut, denn der Lederschwanz einer Peitsche war auf ihren Rücken geschnellt. Einer der beiden Krieger bedeutete Betty, sich von der Ladefläche des Wagens hochzurappeln und auf die Füße zu stellen. Sikki beeilte sich, neben ihrer Herrin Aufstellung zu nehmen. Das Band an ihrem Hinterkopf wurde gelöst und sie konnte ihren Knebel ausspucken. Betty versuchte, ihren Husten zu unterdrücken. Jemand löste ihre Fesseln. Dann wurden sie ins Innere des Gebäudes geführt.
Der Mann, der in einem ansonsten völlig leeren Raum auf einem Flechtsessel saß, trug lange offene Haare, die ihm fast bis auf die Hüften reichten. Die rote Uniformjacke hatte er aufgeknöpft. Sein Englisch bellte er mehr, als dass er es sprach. »Ich bin General Pei. Sie haben gestohlen, das ist nach den Worten Jesu eine Todsünde. Sie wissen, dass wir Taiping so etwas nicht dulden. Hong, unser großer Anführer, ist der kleine
Bruder Jesu. Er geht mit Härte gegen alle vor, die das Wort Gottes nicht achten. Auch die Tage des gottlosen Kaisers sind gezählt und die seiner Konkubinen. Wir werden den Handel mit Opium abschaffen und die Gefälligkeit der käuflichen Damen, die Korruption und die sieben Todsünden. Was wissen Sie über die Bibel?« Er sprang plötzlich auf und zog ein Messer. »Haben Sie das Wort Gottes überhaupt schon einmal gehört?«
Sikki erbleichte, doch Betty sah dem Mann gerade ins Gesicht. »Ich kenne die Bibel besser als mancher andere«, sagte Betty mit fester Stimme. »Sie können mich gern darin prüfen!« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber wie es aussah, wurde hier großer Wert auf Bibelfestigkeit gelegt. Bettys Widerrede schien den Anführer der Taiping etwas aus dem Konzept zu bringen. Er stockte einen Moment. »Füße zeigen!«, befahl Pei dann. »Schuhe ausziehen!«
Betty schämte sich ihrer Schuhe. Die ehemals weißen seidenen Pantoffeln waren unterdessen grau und unansehnlich geworden. Sie schlüpfte hinaus und stellte einen Fuß so weit vor, dass er unter ihrem Sari hervorblitzte.
Pei betrachtete ihn, dann wollte er auch den anderen Fuß sehen und schließlich nahm er die Füße von Sikki unter die Lupe. »Eure Füße nicht gebunden«, stellte er fest. »Füßebinden ist im Himmlischen Königreich des vollkommenen Friedens verboten. Aber Sie haben gestohlen!« Er kam langsam näher und umrundete Sikki und Betty, dann blieb er dicht vor Bettys Gesicht stehen und blickte auf ihren Haaransatz. »Ihre Frisur - haben Sie die Stirnhaare gekürzt? Ist das ein Pony?« Betty konnte
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