Die Teeprinzessin
stolz!«
Betty wäre bei diesen Worten vor Verzweiflung am liebsten über Bord gesprungen. Aber dann schüttelte sie Sikkis Hand ab und starrte doch nur aufs Wasser hinaus.
Tage und Wochen vergingen. Das Wetter hielt sich, und sie kamen in keinen der Stürme, vor denen Ross seine Mannschaft und die Passagiere fast täglich warnte. Kapitän Ross hatte neben seinem Laster, dem Alkohol, auch einige sehr liberale Eigenschaften. Sämtliche Passagiere durften sich frei an Bord bewegen, unabhängig davon, welche der beiden verfügbaren Klassen sie gebucht hatten, die Massenunterkünfte auf den drei unteren Decks oder Einzelverschlag mittschiffs.
Zuerst dachte Betty, es seien fast nur Männer an Bord, und sie
waren auch tatsächlich in der Überzahl. Angeblich lag das daran, dass chinesischen Arbeiterfrauen »ohne bestimmte Kontakte«, wie es hieß, die Einreise nach Amerika nicht ohne Weiteres erlaubt wurde. Oder ohne genug Käsch. Fast alle der Familien auf dem Schiff stammten aus Kanton, viele der Männer hatten gute Berufe und die meisten hatten in ihrer Heimat schon Kontakt mit Händlern aus Europa gehabt und sprachen bereits Englisch. Betty kam mit einer jungen Frau namens Lisi ins Gespräch, deren Füße nicht gebunden waren. Die Frau trug ein wimmerndes Baby auf dem Arm. Sie sprach gut Englisch und schien genauso froh über ein kurzes Gespräch zu sein wie Betty. Lisis Mann war Bauer gewesen und er verfügte über eine besondere Fertigkeit: Er hatte in den brackigen Flächen des Perlflussdeltas Felder angelegt und war damit zwar nicht reich geworden, hatte jedoch immer sein gutes Auskommen gehabt. Nun verwendete die kleine Familie ihr gesamtes Erspartes dafür, in die Neue Welt zu reisen. »In den Reisfeldern sind Schlangen«, sagte die junge Frau mit leiser Stimme. »Es gibt kaum eine Familie, die nicht eines ihrer Kinder oder gar den Mann durch die Bisse der Schlangen verliert. In San Francisco gibt es solche Gefahren nicht. Wir können dort bei Bekannten unterkommen.«
Betty betrachtete das Baby auf dem Arm der Frau. Es wimmerte leise vor sich hin, fast klang es wie das Sausen des Win des. Das Baby mochte etwa sechs Monate alt sein und sein Gesicht unter dem dunklen Haarschopf war von einem zarten und ebenmäßigen Elfenbeinton, wie der einer Orchidee. Die Wimpern des Babys waren dicht und schwarz wie Seide. »Was für ein schönes Baby Sie haben«, hörte Betty sich sagen. Das kleine Kind rührte sie.
Lisi biss sich auf die Lippen und starrte auf den Horizont. »Er hat noch keinen Namen. Er trinkt seit ein paar Tagen nicht gut. Wir hoffen, dass er es bis nach San Francisco schafft.«
»Warum trinkt er nicht gut?«
Betty sah, dass Lisis Augen feucht geworden waren. »Ich weiß nicht. Vielleicht liegt es an meiner Milch. Oder aber die Seereise bekommt ihm nicht gut.« Nun lief eine winzige Träne über Lisis Wange und tropfte auf die Wange des Babys. Es lächelte im Schlaf, wimmerte aber gleich darauf weiter. »Er hat schon eine ganz spitze Nase, finden Sie nicht?«
Betty schaute sich das Baby eine Weile an, dann bat sie Lisi, es einmal halten zu dürfen. Das kleine Bündel war viel leichter, als sie vermutet hatte. »In meiner Heimat hat man Babys früher ein klein wenig schwarzen Tee eingeflößt, wenn sie nicht trinken wollten.« Sie überlegte. Hatte nicht der Vater einmal erzählt, dass Betty nach ihrer Geburt fast gestorben wäre und dass nur ein wenig Tee, aufgebrüht aus den besten Sorten von Asmussens Teehandelshaus, ihre hauchzarten Lebensgeister wieder geweckt hatte? »Ich denke, dass schwarzer Tee in so einem Falle hilft«, sagte Betty und gab Lisi das Baby vorsichtig wieder zurück.
»Das denke ich auch«, gab Lisi zu. »Aber hier an Bord gibt es nur russischen Ziegeltee. Sie nennen ihn auch Karawanentee. Er überdeckt nur den Geschmack faulen Wassers, aber es ist kein richtiger Tee. Ich denke nicht, dass es dem Baby davon bessergehen würde.« Sie schluckte. »Und der Tee ist außerdem sehr teuer. Wir haben kein Geld dafür.«
Betty nickte. »Geld habe ich auch keins mehr. Aber ich habe Tee, den besten Tee, den Sie sich nur vorstellen können. Wenn der Koch etwas Wasser aufkochen kann und es dann wieder ein wenig abkühlen lässt, können wir etwas Tee für das Baby kochen.« Sie lächelte. »Und der Mutter würde auch ein Tässchen davon guttun! Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da!«
Der Wind hatte etwas zugenommen und jetzt jagte die Walross dahin wie ein dunkler Schatten. Der Koch
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