Die Teeprinzessin
»Er wollte nach Europa segeln, als wir uns das letzte Mal trafen. Würde gern mal wissen, wie es ihm dort ergangen ist. Jocelyn ist ein guter Junge und ein ausgezeichneter Kämpfer. Abenteurer und Geschäftsmann zugleich. Mit seiner Mutter redet er nicht mehr. Sie sind schon seit Jahren zerstritten. Wenn sie ihn zu fassen bekäme, wäre ich nicht einmal sicher, ob er das überleben würde. Sie hassen einander.« Er nickte vor sich hin. »Ach, was rede ich!« Schon halb abgewandt, sagte er: »Sagen Sie mir einfach, wo die Ware ist. Ich kann sie dann von ein paar Männern holen lassen. Aber vorher muss ich noch nach meinem Steuermann suchen. Der liegt hier in einer dieser Opiumhöhlen und träumt davon, endlich Kapitän zu sein.«
7
Hatte das Opium schon ihre Sinne betäubt, so waren es die Mitteilungen von Kapitän Ross gewesen, die ihr seit Wochen den Schlaf raubten und sie auch tagsüber in einer Art ewigem Traum hielten. Wieso hatte sie nicht gespürt, dass die Dame Sahing über Francis und Ava sprach, als sie ihre verlorenen Kinder erwähnte? Betty erinnerte sich Wort für Wort an das Gespräch und hörte es immer und immer wieder in ihren Gedanken. Hatte sie nicht auch etwas in ihrer eigenen Sprache gesagt? Was mochte das gewesen sein? Stimmte es wirklich, dass die Dame Sahing und Francis sich gegenseitig hassten?
Sie waren seit mehr als sechs Wochen auf See. Die grölenden Männer im Hafen von Schanghai hatten recht gehabt. Kapitän Ross fuhr tatsächlich mit zweihundert chinesischen Arbeitern nach Kalifornien. Allerdings hatte er sie nicht ›schanghait‹. Sie fuhren freiwillig, und sie hatten für die Passage teilweise sehr viel Käsch berappt, wie die Währung an Bord genannt wurde. Die Ausreise aus China nämlich war für gewöhnliche Arbeiter illegal. Es war nur den schwelenden Konflikten des immer noch andauernden Opiumkrieges zu verdanken, dass die chinesischen Behörden in den letzten Wochen nicht mehr so genau kontrollierten, wer ihre Häfen verließ. Einige der Arbeiter hatten gehört, dass in Amerika in den nächsten Jahren eine Eisenbahnlinie von der Westküste zur Ostküste gebaut werden solle, und sie wollten sich bereits jetzt Arbeitskontrakte mit den Betreibern sichern. Den weitaus größeren Teil der chinesischen Auswanderer aber zog es nach Gam Saan, in die Goldberge in der Sierra Nevada, wo sie ihr Glück machen wollten.
Kapitän Ross wurde nicht müde, seinen Geschäftssinn zu loben. Normalerweise könnten die Chinamänner, wie er sie
nannte, nur über Hongkong ausreisen, das britische Kronkolonie war, oder über das zu Portugal gehörende Macao. Normale Arbeiter müssten allein und ohne ihre Familien ausreisen, nur die Kaufleute dürften Frau und Kinder mitnehmen. Doch Schanghai war unruhig. Die Briten lagen mit ihren Kriegsschiffen im Hafen, und den ausreisewilligen Chinesen war klar, dass sich niemand um sie kümmern würde, wenn sie sich nach Einbruch der Nacht an Bord begaben. Betty hörte nur mit halbem Ohr zu, wenn der Käpt’n beim Essen darüber monologisierte, warum man gerade jetzt sehr gute Geschäfte machen konnte.
Auch Sikki redete mehr als sonst. Während der ersten Tage auf See schilderte sie Betty bis ins kleinste Detail, wie es ihr mit dem festgefahrenen Ochsenkarren in der alten Straße in Schanghai ergangen war. Sikki hatte sich fast zu Tode gefürchtet. Als endlich die Männer von Ross erschienen, um den Tee zu verladen, den Wagen aus der engen Straße herauszuzerren und die Ochsen mit einem Klaps auf die Hinterteile wieder in Richtung ihres Stalls bei Bajung zu schicken, hatte sie zunächst gedacht, dass jemand den Tee abermals stehlen wolle. Sie hatte geschrien und wild um sich geschlagen, aber niemand hatte ihr geholfen. Daher hatten sie die Männer von Ross einfach in einen Sack gesteckt und so zusammen mit dem Tee auf das Schiff gebracht.
Sikki wurde nicht müde zu berichten, wie sehr sie sich dabei für ihre Herrin aufgeopfert hatte. Dabei hatte sie von der eigentlichen Gefahr gar nichts mitbekommen. Wie von Ross befürchtet, waren die Kämpfer der Dame Sahing nämlich ebenfalls am Hafen von Schanghai eingetroffen, und nur der Tatsache, dass es unterdessen tiefe Nacht war und keine Übersetzboote mehr am Kai lagen, war es zu verdanken, dass die Walross mit Betty und dem Tee an Bord wirklich unbehelligt ablegen konnte.
Ross hatte seinen Steuermann erst im letzten Augenblick hinter einem Teerfass im Hafen entdeckt. Ihre plötzliche Abreise war somit nicht
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