Die Teeprinzessin
mit ihrer Liebe zum Alkohol ist ein Beispiel dafür, dass der Tee eine andere Sucht verdrängen kann. Und meine Schwester ist eben ein weiteres Beispiel dafür. Zumindest dachte ich es und lange Zeit war sie in ihrem Pensionat in Darjeeling auch sehr glücklich. Ich habe natürlich die ganze Zeit um sie gebangt und mich gefragt, ob nicht die Sucht doch eines Tages zurückkehren würde. Dann habe ich gehört, dass sie mehrmals allein nach Kalkutta gefahren ist. Und dass sie dort am Hafen auf die hereinkommenden Schiffe wartete. Leider war das nicht der erste Vorfall dieser Art. Die Leiterin der Klosterschule ist gnadenlos mit Mädchen, die Rückfälle erleiden.
Sie hat sie zur Rede gestellt und angedroht, sie von der Schule zu werfen, zumal dieses nicht Avas erster Rückfall war. Das wäre Avas Ende gewesen. Sie hat nicht mehr viele Chancen im Leben, diese Schule ist eine der letzten. Ava selbst weiß es. Sie denkt, dass sie es nicht verdient hat, glücklich zu sein, und dass es besser wäre, wenn sie bald sterben würde. Das alles hat sie mir damals im Garten erzählt, als du uns beobachtet hast. Ich war so voller Mitleid mit ihr, dass ich sie umarmt habe. Ich billige nicht, was sie tut, aber dennoch ist sie meine kleine Schwester. Ich habe einen großen Fehler gemacht, dass ich dir nicht vorher von ihr erzählt habe. Ich hätte Vertrauen haben müssen. Die Dame Sahing sagt das auch. Sie hat ebenfalls erst sehr spät davon erfahren, was mit ihrer Tochter los ist.«
Betty hatte sich noch enger an ihn gelehnt. »Es war mein Fehler«, flüsterte sie. »Nicht deiner. Ich hätte Vertrauen in dich haben müssen.«
Francis schüttelte den Kopf. »Da muss ich dir leider widersprechen, meine Geliebte!«
Dayun und Sikki, die in der Kutsche mitreisten und zumeist aus den Fenstern schauten, selbst dann, wenn die Vorhänge vorgezogen waren, hatten einen vielsagenden Blick gewechselt und amüsiert die Augen verdreht.
Ihre Ankunft in Hamburg war von Francis’ Leuten gut vorbereitet worden. Sie hatten im Grandhotel eine ganze Etage reserviert, denn die Entourage war unterdessen auf mehrere Dutzend Personen angewachsen. Sikki, die bei ihrem Wiedersehen ausgesehen hatte, als wolle sie Betty am liebsten weinend in die Arme fallen, die sich das aber versagt hatte, war glücklich, dass ihr selbst nun wieder drei Bedienstete zur Verfügung standen, die ihre Schuhe und die ihrer Herrin putzten und die sie auch sonst herumkommandieren konnte. Auch Dayun stand einem kleinen Heer von chinesischen Bediensteten vor, die bereits
vor Monaten mit einem Schiff aus Kalkutta angekommen waren und die er befehligte wie eine Leibgarde. Francis hatte vorgeschlagen, dass sie eine einzige gesellschaftliche Einladung annehmen und dann mit seinem Schiff nach Indien segeln würden. Sie sollten die Remburgs mit einem Besuch beehren, sagte Francis. Betty wand sich bei dem Gedanken, einen Schritt in das Haus zu tun, aus dem sie seinerzeit mit Schimpf und Schande gejagt worden war. Warum nicht lieber in die Oper gehen? Oder auf einen der Frühlingsbälle? Aber Francis wollte davon nichts wissen. »Wenn du magst, können wir im nächsten Jahr nach Paris oder Wien fahren und dort auf Bälle gehen. Aber nicht hier. Ich möchte gern, dass du etwas Bestimmtes siehst, bevor wir wieder abreisen. Es hat nicht einmal mit dem Fest selbst etwas zu tun.«
Die Robe, die ein aus Moskau angereister Schneider für Betty aus den Palastseiden der Dame Sahing angefertigt hatte, war so atemberaubend, dass die beiden Ankleidedamen des Schneiders mit gesenkten Häuptern vor Betty verharrten und es kaum wagten, wieder hochzuschauen. Die Robe war von grandioser Schlichtheit. Der weite lange Rock raschelte bei jedem Schritt, die enge Korsage war weit ausgeschnitten. Betty erfuhr, dass die Hamburger so etwas ein Gesellschaftsdekolleté nann ten. In Russland aber hieße es Zarinnendekolleté, verriet der Schneider. Er sah Betty für einen Moment lang in die Augen, dann senkte auch er den Blick. Er werde vorschlagen, dass diese Art, ein Kleid zu tragen, künftig Bettys Namen tragen solle. Am schönsten aber war die Farbe der Seide. Er selbst habe so einen Ton noch niemals gesehen, versicherte der Schneider. Und wenn er das sagen dürfe, das Grün der Seide entspräche genau der Farbe der Augen seiner Trägerin. Dies hier sei ein magischer Moment in seinem Leben.
Francis, der der Anprobe in einem Sessel sitzend zuschaute,
hob die Hand. »Das ist keine Magie. Ich denke, das ist der
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