Die Teeprinzessin
Teehandelshauses, von dem es hieß, dass er seit dreißig Jahren Witwer war. Neben ihm saßen zwei schmale junge Herren aus London, die beide in der Firma den Beruf des Kaufmannes lernten. Hinzu kamen wechselnde Geschäftsfreunde der Remburgs, die oft aus Städten kamen, deren Namen Betty kaum jemals gehört hatte: aus Samarkand und Konstantinopel, aus Casablanca, Rabat und Venedig. Und dann war da Anton. Er saß schräg rechts von Herrn Remburg auf dem kleinen Ehrenstuhl, wie dieser Platz genannt wurde, und er versuchte, einen Blickkontakt zu Betty gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Bildete sie sich es nur ein oder war Anton wirklich ein wenig unterwürfig geworden? Er nickte stets zu allem, was der Hausherr sagte, er stimmte zu, er pflichtete bei. Doch als Betty einmal einen vom Butler Jobs zu reichlich aufgeschöpften Teller
Lachssuppe vor Anton stellen musste und ihm dabei einen Hauch näher kam als den anderen Herrschaften, konnte sie wahrnehmen, dass er in einer kleinen Wolke von Angstschweiß saß. Was fürchtete er? Dass er dem abwechselnd auf Englisch und auf Deutsch geführten Tischgespräch nicht folgen konnte? Oder dass Ricarda Remburg, die ältere der beiden Töchter, ihn mit den Augen auffressen würde? Wie es schien, hatten alle hier einen Narren an ihm gefressen. Sogar der strenge Blick des Hausherrn ruhte wohlgefällig auf Antons schmaler Gestalt. Und was immer Anton auch sagte, es war formvollendet und der Situation angemessen. Betty hätte ihn gern gefragt, wie er sich dabei fühlte.
Ein einziges Mal geschah es während der ersten beiden Wochen, dass Betty allein auf Anton traf. Sie war eben dabei, die Messingstangen zu polieren, mit denen der rote Kokosläufer auf der Treppe zum Haushaltskontor gehalten wurde, als Anton über die Diele lief, in der Hand einen Stapel Papiere.
»Bleibt es bei Sonntag? Wie immer?«, raunte Betty. So langweilig ihr die ewigen Fototermine mit Anton und Ismael Aberdira in den vergangenen Monaten auch erschienen waren, jetzt versprachen sie eine herrliche Abwechslung!
Anton fuhr zu ihr herum.
Konnte es wirklich sein, dass er sie zuerst nicht wahrgenommen hatte, wie sie in ihrer Hausmädchentracht auf den Treppenstufen kniete und die Stangen mit Wiener Kreide bearbeitete? Anton sah sie mit einem seltsamen Blick an, dann schüttelte er unwirsch den Kopf und ging einfach seiner Wege. Als Betty am darauf folgenden Sonntag bei Aberdiras Wohnung klingelte, öffnete niemand, obwohl sie zuvor Stimmen gehört zu haben glaubte. Oder bildete sie sich das unterdessen ein?
Die Tage bei den Remburgs waren gleichförmig. Die Mädchen
sollten bei der Arbeit nicht miteinander reden, tratschen, nannte Jungfer Siebenschön es, und sie sollten auch nicht singen. Aber seit Betty sich eingewöhnt hatte und ihr die Arbeit etwas leichter von der Hand ging, genoss sie es, viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Ob sie vielleicht nach einiger Zeit in die Heimatstadt zurückkehren sollte? Oder würde sie hier ihr Glück finden - als ewig schweigendes Hausmädchen?
2
Nach außen hin sollte es eine ganz gewöhnliche und dennoch bis in die Fingerspitzen feine Abendgesellschaft werden, von der Art, wie sie mehrfach in der Woche bei den Remburgs abgehalten wurde. »Kein sichtbarer Aufwand. Und bloß kein Getue!«, so lautete ein Credo von Frieda Remburg. »Das Fell des Mantels gehört nach innen.«
Heinrich Remburg blickte über seine kleine silberne Brille. »Überhaupt kein Fell, würde ich sagen. Fell zu tragen ist ordinär!« Ansonsten vermied er es offenbar, seiner Frau zu widersprechen.
Dieses Mal, so hörte Betty, würde eine Reihe von Wildspezialitäten aufgetischt werden, die ein Handelspartner von Heinrich Remburg von einer Jagd aus dem Osten mitgebracht und den Gastgebern geschenkt hatte. Damen wurden an diesem Abend nicht erwartet, es würde eine reine Herrengesellschaft werden, die vornehmlich geschäftlichen Charakter hatte. Daher sollten die Hausmädchen auch nicht servieren, sondern alle Speisen auf Tischen in einem der vorderen Salons vorrä tig halten. Jobs und sein Butlerkollege würden die Herren mit Getränken versorgen und auch den Mitternachtsimbiss im Billardzimmer servieren.
Worum es bei dem Treffen genau ging, wusste Betty nicht. Aber die allgemeine Aufregung hatte auch Jungfer Siebenschön ergriffen. An einem Abend wie heute, flüsterte sie, würden Geschäfte für ein ganzes Jahr festgelegt. Nur die vornehmsten Kaufleute würden hier heute erwartet. Ein jeder könne
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