Die Teeprinzessin
sie ein Gespräch von zwei Köchinnen aus der Palmaille mitgehört hat«, fuhr sie fort, »und die eine hat gesagt, dass er aber wohl gar nicht gekommen ist, um hier Geschäfte mit seinem eigenartigen Tee zu machen, sondern dass er eine geheimnisvolle junge Frau sucht. Nur diese eine will er heiraten. Als ob es hier nicht genug wunderschöne Kaufmannstöchter gäbe! Sie haben ihn schon auf viele Gesellschaften gebeten, aber da hat er sich immer nur fürs Geschäftliche interessiert und nicht für die Töchter. Er will erst wieder abreisen, wenn er das Mädchen gefunden hat. Das hat sie genau gehört!«
Die Mädchen lauschten gebannt.
»Und einen chinesischen Diener mit einem Zopf soll er haben. Aber den hat auch noch keiner gesehen!«
»Ein Diener?«, platzte Betty heraus. »Den hab ich damals
aber nicht gesehen!« Sie spürte, wie plötzlich alle Augen auf ihr ruhten und sie errötete wie eine Kirsche. »Ich meine nur, bei uns in der Heimat gab es auch Teehändler, und dort hatte man keine Diener!«
»Wie überaus uninteressant!« Jungfer Siebenschön schüttelte sich leicht, so als ob sie damit die Vertraulichkeit abwerfen könne, die plötzlich zwischen ihr und ihren Schutzbefohlenen entstanden war. »Es ist mit den Männern sowieso nicht alles so, wie es scheint, das könnt ihr mir glauben. Wenn ihr erst mal verheiratet seid, ist ein Mann wie der andere!« Sie schien sich abermals zu schütteln. »Habt ihr keine Arbeit? Will nicht eine den Kessel polieren? Und was ist mit dem Tisch? Er muss mit Soda geschrubbt werden! Und ihr anderen nehmt Aufstellung an der Treppe. Es wird nicht lange dauern, dann klingeln sie nach uns!« Jungfer Siebenschön warf einen theatralischen Blick auf den Klingelstamm, an dem die einzelnen Glocken für die Herrschaften und die diversen Salons hingen. Aber bislang rührte sich keiner der Züge. »Und nun glotzt hier nicht in der Gegend herum!« Damit scheuchte sie alle auf die Beine.
Betty war innerlich wie betäubt. Es war doch ausgeschlossen, dass Mister Jocelyn in Hamburg ausgerechnet nach ihr suchte? Er war sicherlich auf der Suche nach einem anderen Mädchen. Das hatte mit ihr, Betty, nichts zu tun. Bestimmt hatte die Andeutung von Frau Meier am letzten Tag bei den Tollhoffs, ein fremder Herr habe nach ihr gefragt, nichts zu sagen. Sie kannten einander ja kaum. Fast hatte sie sogar die blaue Haarspange bei den Tollhoffs zurücklassen wollen, denn seit sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, bereitete alles, was sie an ihr früheres Leben erinnerte, ihr nur Kummer. Aber wo war die Spange jetzt? Seit sie bei den Remburgs wohnte, war sie ihr kein einziges Mal mehr in die Hände gefallen. Hatte sie die Spange überhaupt noch? Plötzlich fühlte sie ein unbändiges
Verlagen, das Schmuckstück in den Händen zu halten und sich seiner Existenz zu versichern.
»Ich müsste bitte mal kurz nach draußen!« Sie war aufgestanden und stand nun unglücklich neben dem Tisch. Jungfer Siebenschön überragte sie um Haupteslänge.
Das Klosett für die Angestellten war ein Plumpsklo hinter dem Nebengebäude. Wenn sie kurz durch die Hintertür in diese Richtung schlüpfte, konnte sie geschwind in ihre Kammer hinaufspringen und die Spange holen. In ihrer Schürzentasche war genug Platz, um derlei Dinge zu verstecken. Manche der Mädchen trugen sogar ganze Briefbündel mit sich herum. Andererseits war es doch mehr als unwahrscheinlich, dass der Fremde auf der Gesellschaft dort oben ausgerechnet John Francis Jocelyn war. Wie lange war es her, dass sie einander gesehen hatten? Betty hatte so lange versucht, nicht mehr an ihn zu denken und den Tag zu vergessen, an dem der Brand ihr Leben verändert hatte, dass sie es jetzt nicht tun konnte, ohne den Schmerz über ihr Schicksal in jeder Faser ihres Körpers zu spüren.
Und Jocelyn? Er hatte doch nach ihrer kurzen Begegnung bald wieder in seine Heimat zurückreisen wollen. Vermutlich hatte er die kurze Episode nach mehr als einem Jahr längst vergessen. Allerdings hatte er ja noch die anderen Teehändler in den Hansestädten besuchen wollen. Wie lange mochte das gedauert haben? Etwa mehr als ein ganzes Jahr? Oder hatten ihn die Kriegswirren in China an einer Rückreise gehindert? Aber nun sollte der Opiumkrieg ja angeblich bald vorbei sein und, wie es hieß, hatten mehrere asiatische Hafenstädte bereits wieder den Handel mit der alten Welt aufgenommen, wenn auch nicht ganz freiwillig.
Ihre wenigen Informationen über den Teehandel bezog Betty
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