Die Teeprinzessin
Haare stürzten in ihr Gesicht. Der fremde Mann unten hob plötzlich den Kopf und schaute zu ihr hinauf. Seine Augen waren so dunkel wie das Meer im Winter, dachte Betty. Doch da fiel sie auch schon. Sie fiel kopfüber in die Tiefe des dunklen Kontors, geradewegs auf den fremden Mann zu. Sie konnte nicht einmal mehr schreien.
Es machte einen Ruck und sie spürte einen festen Griff um ihre Oberarme und um die Taille. Der fremde Mann, der sie gefangen hatte, schwankte leicht. Aber einen Augenblick später setzte er sie bereits auf die Füße und trat einen Schritt weit zurück.
Seine Augen blitzten. Lachte er etwa über sie?
Betty schluchzte auf. Tat ihr etwas weh? Immerhin hatte sie sich nicht den Hals gebrochen. Allerdings schien Anton genau das zu befürchten. Vom Zwischenboden hörte man nun nämlich ein leises Wehklagen.
Der alte Asmussen schnaufte empört und suchte zunächst nach seiner Brille, die er offenbar aufsetzen wollte, bevor er mit seinem Donnerwetter begann.
Der Fremde sah Betty wieder in die Augen. »Oh, ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist John Francis Jocelyn, Kaufmann aus Kanton.« Er lächelte ihr zu. »Kanton ist eine Handelsstadt in China.«
»Ich weiß, wo Kanton liegt«, platzte es aus Betty heraus. »Andere offene Handelsstädte gibt es in China ja nicht.« Wie dieser fremde junge Mann sie ansah! Auch wenn er sie aufgefangen hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie einander nun kannten. Gehörte es sich etwa, eine fremde Person aufzufangen? Und sie dann so zu mustern, dass sie ganz weiche Knie bekam? Andererseits mochte sie sich nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn er sie nicht gefangen hätte. Bettys Füße standen jetzt wieder sicher auf dem dunklen Steinboden. Sie wich einen Schritt zurück.
In diesem Moment hatte Asmussen offenbar seine Brille wiedergefunden und sie auf seine dicke rote Nase gesteckt. Nun musterte er Betty voller Wut. »Betty! Was erlaubst du dir, du freches Gör, hier im Nachthemd und mit offenen Haaren von der Decke zu fallen und meinem Geschäftspartner in die Arme zu springen...!« Er musste sich an der Lehne seines geschnitzten Kontorstuhles festhalten, so erbost war er.
Betty zuckte zusammen. Sie strich sich die Haare mit einer fahrigen Handbewegung aus der Stirn. Sie war völlig durcheinander. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst und wäre wieder oben in der Luke zum Teelager verschwunden.
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die junge Dame trägt kein Nachtgewand, sondern ein hübsches Sommerkleid nach der Mode, und sie hat auch keine unfrisierten Haare, ihr ist lediglich bei dem Sturz eben die Haarspange abhandengekommen. Es ist meine Schuld. Ich habe die junge Dame zu fest gepackt! Das lag wohl daran, dass sie doch recht schwer ist.«
Den Beginn seiner Rede fand Betty wunderbar. Ein erwachsener Mann, der sie verteidigte! Wie alt mochte er sein? Anfang zwanzig vielleicht. Aber ihr Hochgefühl dauerte nur einen winzigen Moment. Schwer! Wie konnte dieser Mann es nur wagen, sie als schwer zu bezeichnen! Betty spürte, wie nun auch in ihr die Wut aufstieg. Was bildete sich dieser fremde Geschäftsmann nur ein?
Asmussen schnaubte unterdessen wie ein altes Walross. »Hier muss keiner glauben, dass er mich für dumm und dösig verkaufen kann. Du fällst hier einfach ins Kontor, Betty. Gut. Du hast gelauscht. Auch gut. Anton macht das ständig, nur dass er denkt, ich merke das nicht. Aber das ist verziehen. Sommerkleid, meinetwegen. Für mich sieht das aus wie ein Nachthemd. Aber warum bist du unfrisiert? Ausgerechnet du, wo du hier herumstolzierst wie eine junge Dame, seit du vier Jahre alt bist. Was habt ihr da oben getrieben? Wozu hast du dir die Haare geöffnet? Was zu viel ist, das ist zu viel. Wo ist denn bitte sehr die Haarspange, wenn sie der jungen Dame eben erst aus dem Schopf gefallen sein soll?« Sein aufgequollenes Gesicht war unterdessen so rot wie ein Strauß Mohnblumen.
»Ja, dann müssen wir wohl die Haarspange suchen, um zu beweisen, dass sie bei dem Sturz herausgefallen ist!«, sagte John Francis Jocelyn mit erhobener Stimme. Betty war sofort klar, zu wem er das sagte. Seine Worte richteten sich an Anton, den er vielleicht nicht gesehen hatte, aber von dessen Existenz
er zweifelsohne wusste, denn Anton saß immer noch oben auf dem Zwischenboden und jammerte leise vor sich hin.
»Die Spange! Die Spange! «, wiederholte der junge Kaufmann nun immer deutlicher. »Wo mag
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