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Die Teeprinzessin

Titel: Die Teeprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bettys Haare, die sich seitlich aus dem Knoten gelöst hatten, quollen unter der Hutkrempe hervor.
    Der schmächtige Mann hinter dem riesigen Kontortisch musste Mister Tiliri sein. Er nippte aus seiner Teetasse und setzte dann den Porzellandeckel wieder auf. Währenddessen betrachtete er Betty durch eine kleine runde Brille hindurch wie ein fremdartiges Insekt.
    »Britisch?« Er runzelte die Stirn. »Dutch?«

    Betty erwiderte seinen Blick. »Nein, ich bin nicht britisch und auch nicht holländisch, ich komme aus Hamburg.«
    Mister Tiliri nickte. »Gouvernante?«
    »Nein!« Sah sie etwa so aus? Was für ein schrecklicher Gedanke. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie während des ganzen Vormittags am Hafen und auf den Straßen keine einzige europäische Dame gesehen hatte.
    »Braut für Bräutigam?«
    »Nein!« Betty hob das Kinn. Sie musste an Magdalene denken, die auch eine Braut gewesen war und die sie verraten hatte. Andererseits verdankte sie ihr nun, dass sie im Begriff war, nach Darjeeling zu reisen.
    Mister Tiliri wackelte mit dem Kopf und wedelte mit einer Handfläche in der Luft herum.
    »Schöne Mademoiselle für Lali Lala? Vielleicht in dem neuen Püff-Püff bei den Dänen in Serampore?«
    Es dauerte einen Augenblick, bis Betty verstand. Ein Hurenhaus hatte es schließlich auch in ihrer Heimatstadt gegeben, wenngleich niemand darüber redete. Aber man wusste doch, dass in der kleinen Hütte weit außerhalb der Stadtmauern Dinge geschahen, die nicht für die Augen und Ohren junger Mädchen bestimmt waren.
    »Nix Lali Lala«, rief Betty wütend. »Was erlauben Sie sich?«
    »Nur eine Frage, die ich mir erlaube«, sagte Mister Tiliri. »Sie sind in meinem Kontor, hier trinke ich meinen Tee, lasse meine Papiere durch die Luft fliegen oder stelle meine Fra gen. Ganz nach meinem Belieben.« Seine Brillengläser blitzten. »Wie kommt es, dass ein deutsches Schiff Sie hier von Bord wirft? Haben Sie vielleicht etwas gestohlen?«
    Betty schluckte. »Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass ich von einem deutschen Schiff komme?« Sie zeigte auf eine
der Außenwände. »Sie haben ja nicht einmal ein Fenster. Oder können Sie durch Mauern sehen?«
    Mister Tiliri lächelte fein. »Die ganze Stadt weiß, dass hier seit heute Morgen eine junge Dame auf ihren Koffern sitzt, ach, was sage ich, ganz Indien weiß davon, vermutlich einschließlich der Mönche in ihren Klöstern im Himalaya. Es gehört nur nicht zu unseren Gepflogenheiten, uns in die Dinge anderer Leute einzumischen. Wir warten lieber ab. Wer also sind Sie?«
    Sie hatte bislang nicht gewusst, wer sie war. Sie hatte angenommen, dass das Wissen darüber, wer man ist oder sein könnte, das Ergebnis eines langen Verlaufes war. Aber so war es nicht, das wurde ihr in diesem Moment klar. Wer man war oder wer man sein konnte, das war nicht die Erfüllung eines Plans. Es war nur eine Idee, und diese Idee kam vollkommen unvermutet, schockierend deutlich, und im Bruchteil einer Sekunde, wie die Liebe.
    »Sagen Sie vielleicht heute noch etwas?«, fragte Mister Tiliri. »Wir sind hier zwar in Indien, aber ich habe dennoch das eine oder andere zu erledigen!«
    Der Gehilfe hatte aufgehört, die Kurbel zu drehen. Der Deckenventilator kam mit einem letzten Aufschrei zum Stillstand. Der Wind in diesem Raum war eingeschlafen. Vielleicht drehte sich nicht einmal mehr die Welt.
    »Ich bin Teehändlerin«, sagte Betty mit fester Stimme. »Ich bin auf dem Weg nach Darjeeling.«

5
    Die Reise in die Berge hinauf war schon anstrengend, bevor sie überhaupt das Kontor von Mister Tiliri verlassen hatte, und doch lag ein zarter Zauber über dem langen Weg. Gegen die
Zahlung von fast 200 englischen Pfund hätte Mister Tiliri eine schöne komfortable Luxusreise ausgerüstet, so wie er das für die Gattinnen der englischen Geschäftleute machte und für all ihr Gefolge, wenn sie die Sommermonate in Darjeeling verbringen wollten. So eine Tour dauere mindestens fünf oder sechs Tage. Was Betty denn bezahlen könne? Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern hob nur theatralisch die Hände. »Oh, Herr, warum schickst du mir eine derartig schwere Person mit derartig viel Gepäck und ohne Geld, und Mister Tiliri muss sie ganz nach oben schaffen, fast bist zu dir, Herr, an den höchsten für Mister Tiliri nur denkbaren Punkt? Warum transportierst du sie nicht einfach selbst hinauf? Das ist der Beweis, dass du es nicht kannst!« Er begann mit seinen Papieren zu rascheln, und wenn Betty seinen

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