Die Teeprinzessin
zurück.
Betty wusste nicht, wie lange sie hier gesessen hatte. Da fiel ihr plötzlich ein Mädchen auf. Sie schien auch auf etwas zu warten, allerdings mit weitaus größerer Unruhe als Betty. Das Mädchen mochte etwa so alt sein wie sie selbst, vielleicht auch ein wenig älter. Sie war von hochgewachsener Gestalt und wirkte völlig anders als die einheimischen Frauen, die ihre Körbe über den Markt trugen und sich um nichts zu scheren schienen. Sie hatte wunderschöne glänzende schwarze Haare, und ihr Körper bewegte sich so geschmeidig, als ob sie tanzte. Sie war europäisch gekleidet. Betty musste lächeln. Fast war sie so streng angezogen wie die Pastorentöchter in ihrer Heimatstadt. Oder war das eine Art Uniform? Der Rock war weit und dunkelblau, dazu gehörte eine hochgeschlossene weiße Bluse und eine rote Jacke mit einem Wappen auf der Brusttasche. Einen Moment lang dachte Betty, dass das Mädchen nun gefunden haben mochte, was es suchte, denn es wendete sich abrupt zu einem der kleineren Gebäude am Rand des Hafens hin. Kurze Zeit später aber lief sie wieder ruhelos auf und ab.
Betty überlegte, ob sie das Mädchen ansprechen sollte. Aber in welcher Sprache?
Das Mädchen hatte sie anscheinend auch bemerkt und schaute sie prüfend an. Dann kam sie langsam näher, leichtfüßig wie eine Elfe.
4
»Guten Tag«, sagte Betty. So wusste das Mädchen jedenfalls gleich, dass sie die Landessprache nicht konnte und auch Englisch nicht fließend sprach. Immerhin regierten die Engländer diesen Teil der Welt.
Das Mädchen schaute sie erstaunt an, dann hellte sich ihre Miene auf. »Guten Tag«, antwortete sie erfreut. »Sie sehen aus wie eine Engländerin, aber es ist gut, dass Sie Deutsche sind. Das ist mir viel vertrauter. Wir hatten früher zu Hause eine deutsche Gouvernante, meine Mutter dachte, dass die besonders streng zu uns Kindern sein würde. Aber da hat sie sich getäuscht! Man konnte wundervoll mit ihr spielen.« Das Mädchen lachte herzlich. Sie hatte wunderschöne weiße Zähne und Lippen wie zwei weiche rote Raupen. Betty konnte den Blick kaum von ihr wenden.
»Ich heiße Betty Henningson«, sagte Betty. »Und ich bin noch nicht so alt, dass man Sie zu mir sagen müsste.« Sie lächelte und das Mädchen gab das Lächeln zurück.
»Mein Name ist Ava«, sagte das Mädchen. »Ich bin siebzehn Jahre alt. Was für ein hübsches Kleid du trägst, wie eine Orchidee siehst du damit aus!« Sie sah an sich selbst herunter. »Alle Mädchen, die hier in den Mädchenschulen eingeschrieben sind, müssen immer in diesen strengen Kostümen herumlaufen, sogar in den Ferien«, sie machte ein paar übertrieben stöckelnde Schritte, kniff dabei die Lippen fest zusammen und hob die Nase weit in die Luft, »so wie die englischen Lehrerinnen bei uns im Leroto-Mädchenkloster in Darjeeling. Stell dir vor, die muss man fragen, bevor man sich die Nase putzen darf, ist das zu glauben? Ein Wunder, dass die Elefanten dort noch Geräusche machen dürfen!« Sie lachte laut, hielt sich die Nase
zu und schnaubte wie eine Trompete. Vielleicht klang so aber auch ein Elefant. Es war geradezu erschreckend, dass ein liebliches Mädchen wie Ava derartige Geräusche machen konnte. Einer der Fruchthändler an einem Stand in der Nähe zuckte von dem Geräusch zusammen, ließ sich aber nichts weiter anmerken.
»Ihr habt Elefanten in der Schule?« Betty zog die Nase kraus. »Wirklich?«
Ava lachte auf. »Nein, die Elefanten werden nur eingesetzt, damit der Dschungel rundherum gerodet werden kann, das machen sie, damit dort Teegärten angelegt werden können. Die Elefanten sind nicht in der Schule! Du bist so süß! Allein wie du die ganze Zeit so dagesessen hast. Als ob du direkt vom Himmel gefallen wärest. Woher kommst du?«
»Ach, von weit her.« Dass Ava von Teegärten gesprochen hatte, ließ das Blut in Bettys Kopf steigen. Sie wollte lieber noch etwas über die Teegärten wissen, anstatt von ihrer Heimat zu sprechen, die ihr hier in der Fremde ganz farblos erschien.
Aber Ava war offenbar wieder unruhig geworden. Ihr Blick ging zum Wasser hinaus. »Kommt da hinten vielleicht gerade ein Schiff?«
Betty beschattete mit ihrer Handfläche ihre Augen. »Da kommen sogar ganz viele Schiffe. Auf welches wartest du denn?« Ihr war gar nicht aufgefallen, dass die Frieda Maria anscheinend schon wieder in See gestochen war. Wie lange hatte sie hier gesessen? Es war, als ob die Zeit hier in einem anderen Tempo verging.
Ava schien auch in
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